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Der Sohn des Tuchhändlers

Der Sohn des Tuchhändlers

Titel: Der Sohn des Tuchhändlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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Langnasigen und seinen Freunden hinüber; ihr Interesse an uns war vorerst erloschen, und ich hatte nicht im Sinn, daran etwas zu ändern. Wir drängelten uns durch die immer dichter werdende Menge am Galgen vorbei. Mittlerweile mussten wenigstens tausend Menschen auf dem Platz zusammengeströmt sein, angezogen von der stillen, kapuzenverhüllten Gestalt im Habit auf dem Dach des Waagenhäuschens wie die Motten vom Licht.
    »Heute Nachmittag … ich war in Kleparz«, versuchte ich gegen das Gebrüll der Meute anzuschreien. Mojzesz in meinem Schlepptau beugte sich zu mir herab. Sein Gesicht bekam allmählich wieder seine normale Farbe, was im gegenwärtigen Fall hieß: eine angstvolle Blässe. »Die Torwachen hatten das Florianstor verschlossen … war das sein erster Auftritt?«
    Mojzesz nickte heftig. Wir stießen gegen einen Mann, der knurrend herumfuhr, Mojzesz ins Auge fasste und dann zur Seite wich. Der hünenhafte Bankier mit seinen weit aufgerissenen Augen und dem verschwitzten Haar wirkte wie jemand, der nicht Herr seiner Sinne ist. Die Anfeuerungsrufe des Langnasigen und seiner Bewunderer hatten weiter auf die Menge übergegriffen; mehrere Gruppen schrien und klatschten jetzt »Avellino-Avellino!«, ohne miteinander im Takt zu sein. Das würde geschehen, sobald auch die noch nicht angesteckten Teile der Menge in das Geschrei einstimmten, und dann würde die Meute ein einziger, im gleichen Rhythmus schwingender Körpersein, der seinen Verstand kollektiv im Gebrüll ersaufen ließ und von jedem, der es wünschte, in jede beliebige Richtung gesteuert werden konnte. Ich erkannte, dass es nicht mehr lang dauern würde, bis dieser Zustand erreicht war, und dann reichte ein kleiner Fehler – Mojzesz zum Beispiel, der in der Aufregung die Jarmulke doch noch aufsetzte, bevor ich ihn daran hindern konnte – und die Menge würde uns zertrampeln.
    »Der Rat hat das Tor wieder öffnen lassen. Haben die Wachen eigenmächtig gehandelt?«
    Mojzesz nickte erneut. Jemand packte mich am Arm, und ich fuhr herum, aber ich sah nur in ein begeistertes Gesicht, dessen Besitzer mir ins Gesicht schrie: »Der zeigt’s ihnen, Bruder!« und mir auf die Schulter klopfte, bevor er sich in eine andere Richtung ins Gedränge wühlte. Mojzesz rief mir etwas zu, und ich musste mir Mühe geben, ihn zu verstehen. »… Weigel hat dem Mönch bestimmt nichts gesagt, und für Jossele lege ich meine Hand ins Feuer!« Mojzesz hatte kein Wort von dem verstanden, was ich gesagt hatte. Ich zog ihn zu mir herab und brüllte ihm wütend ins Ohr: »Vielleicht hat jemand bei Kardinal Jagiello oder bei Avellino gebeichtet!«, und er riss sich los und starrte mich noch schockierter an als vorhin. Ich zuckte mit den Schultern. Ich glaubte es selbst nicht, aber der Blödigkeit der Menschen ist keine Grenze gesetzt.
    Avellino hatte sich noch nicht bewegt. Seine aufgesetzte bußfertige Haltung rief plötzliche Wut in mir hervor. Er wusste genau, was er tat: Er wartete auf das gleiche Ereignis, das ich fürchtete – den Gleichklang der Menge. Ich fragte mich, ob die Ratsherren im Augenblick aus den Fensteröffnungen des Rathauses hinter uns starrten und sich wunderten, ob sie den Aufruhr mit Soldaten auseinander sprengen sollten (und ob die Soldaten ihnen gehorchen würden), doch als ich mich umdrehte, ragte der Ratsturm nur stumm hinter uns auf.
    »Avellino-Avellino- avellino !«
    Ich zerrte wieder an Mojzesz Fiszels Ärmel.
    »Was hat der Mönch heute Nachmittag gepredigt?«
    »Peter!«
    Mojzesz starrte mich an. »Was hat er gepredigt, Mojzesz?«
    Mojzesz richtete sich auf und sah sich um. Aus seiner Position eine Haupteslänge über allen anderen machte es ihm keine Mühe, Überblick zu gewinnen.
    »Peter!«
    Dass ich den Ruf schon ein zweites Mal hörte, sank langsam in mein Bewusstsein. Ich drehte mich ebenfalls um, aber alles was ich sehen konnte waren die erhitzten Gesichter in unserer Nähe. Ich war groß, aber zu Mojzesz’ Höhe fehlte mir einiges. Mir wurde kalt, als mir klar wurde, dass es Jana sein konnte, die Mojzesz und mir gefolgt war. In ihrem schrillen Klang war nicht zu unterscheiden, ob es eine Männer- oder eine Frauenstimme war.
    »Avellino-Avellino- avellino !«
    In unserer Nähe begann ein Drängen und Schubsen, als jemand sich zu uns vorarbeitete.
    »Wer ist das, Mojzesz?«, schrie ich hinauf.
    Was Mojzesz antwortete, ging in einem Aufschrei unter. Ich fuhr zum Waagenhäuschen herum. Avellino stand mit ausgebreiteten Armen dort oben,

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