Der Sohn des Verräters - 21
irgendwer. Du bist ein sehr merkwürdiger Mensch, Domenic Gabriel-Lewis.“ „Sag einfach nur Domenic zu mir. Alle meine Freunde nennen mich so.“ „Und ich bin deine Freundin?“ „Das habe ich dir doch letzte Nacht schon gesagt.“ „Ja, aber ich habe es nicht ganz geglaubt. Jetzt schreib Brot für mich.“
Es war später Nachmittag und es goss seit Stunden. Katherine Aldaran legte den Pinsel beiseite und rieb sich den Nacken.
Sie hatte die Zeit völlig vergessen. Sie warf einen raschen Blick auf die Holztafel auf der Staffelei und fand, dass es kein schlechter Anfang war.
„Bist du müde?”, fragte Gisela, die in einigem Abstand auf einem thronartigen Stuhl saß. „Ich bin es jedenfalls. Ich hätte nie gedacht, dass es so anstrengend sein kann, stillzusitzen!“ „Verzeih mir – ich hab mich völlig in der Arbeit verloren. Normalerweise gehe ich nicht so gedankenlos mit meinen Modellen um.“ „Es hat mir eigentlich nichts ausgemacht. Es war sehr interessant, dich zu beobachten. Und ich kann dir etwas Nützliches sagen, wenn du magst.“ Kate stellte den Pinsel in ein Glas mit Terpentin und schwenkte ihn darin. „Nämlich?“ „Wenn deine Gedanken beim Malen sind, wird dein Geist extrem still.“ „Still?“ „Na ja, vielleicht mehr wie verschlossen. Abgeschirmt.“ „Ich verstehe. Wenn ich also den Flur entlangspaziere und dabei an Ockerfarbe denke, kann niemand meine zufälligen Gedanken hören. Das ist wirklich brauchbar. Danke.“ „Ich bin froh, dass es dir nichts ausmacht, Kate. Darf ich sehen, was du gemalt hast, oder muss ich warten, bis es fertig ist?“ „In diesem Stadium siehst du noch nicht viel, aber wenn du willst, kannst du gerne einen Blick darauf werfen.“ Normalerweise ließ Katherine ihre Modelle das vorläufige Gemälde nicht sehen, weil es nur aus Linien bestand, schwer zu verstehen für jemanden, der kein Künstler war. Bisher hatte sie die Umrisse von Giselas Kopf und Schultern skizziert, die geschnitzten Stuhlpfosten und einen Teil vom Faltenwurf des violetten Gewandes, für das sich Gisela entschieden hatte. Die Gesichtsfarbe erinnerte noch nicht an ein menschliches Wesen, da Grün norma lerweise nicht der Farbton ist, an den man denkt, wenn man sich ansieht.
Bevor Gisela aufstehen und zur Staffelei gehen konnte, klopfte es an der Tür, und einen Moment später steckte Rhodri seinen roten Kopf herein, seine Augen funkelten. Dann bemerkte er Gisela Und zögerte kurz. „Oh, tut mir leid – Mutter sagte, du arbeitest vielleicht.“ „Schon in Ordnung – für heute sind wir sowieso fertig, oder. Kate?“ „Ja. Bist du hier, um zeichnen zu lernen, Rhodri?“ Der Junge grinste und sah sich im Atelier um, mit einem raschen Blick erfasste er die Tafel auf der Staffelei. „Nein. Mutter hat mich gebeten, dir das hier zu bringen. Sie hat gerade einen Brief von Domenic bekommen, und der hier ist für dich – von Onkel Herm.“ Rhodri hielt ihr ein dickes Päckchen hin und trat unruhig von einem Bein aufs andere. Er schaute Kate erwartungsvoll an. Als sie nicht sofort reagierte, wirkte er sehr enttäuscht. „Willst du ihn denn nicht?“ „Danke“, antwortete Kate steif und nahm ihm den Brief aus der Hand.
„Willst du ihn nicht lesen?“ „Rhodri Rafael Alton-Hastur – du bist ein elender Quälgeist!“, schimpfte Gisela, aber sie klang nicht wirklich zornig. „Das ist schließlich privat, du kleiner Naseweis!“
„Aber ich wollte doch nur wissen, wie viele Terraner er schon getötet hat!“ Gisela sah empört aus. „Husch! Ab mit dir, du Kobold Zandrus! Wir beide werden unsere Neugier bezähmen und Katherine sich in Ruhe an dem Brief freuen lassen.“ „Aber das ist ungerecht, Tante Gisela! Erst verduftet Domenic und macht Dummheiten, und ich sitze hier in der Burg fest. und dann …“ „Genug!“ Gisela stand auf und schüttelte die Falten ihrer Röcke aus.
„Bitte geh nicht, Gisela.“ Kate hielt den Brief in den Fingern, Sie fror plötzlich. Sie wollte jetzt nicht allein sein. „Wie wär’s, Wenn du noch etwas von dem guten Tee machen würdest, den wir vorhin getrunken haben, während ich …“ „Natürlich! Genau das Richtige für einen verregneten Nachmittag.“ Herms Schwester ging zum Kamin, schüttelte einen Kessel, der auf der Kaminplatte stand, und goss Wasser aus einem Krug hinein. Dann hängte sie ihn an einen Haken und drehte sich um. „Bist du immer noch da, Rhodri?“ „Du bist so gemein“, murmelte er, bevor er den Rückzug antrat und die
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