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Der Sohn des Wolfs

Der Sohn des Wolfs

Titel: Der Sohn des Wolfs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack London
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nicht übervorteilt zu werden, stopften sie sich bis zum Brechen. Die Leckereien ertrugen diese Fresserei nicht, und die Männer auch nicht. Aus Mangel an frischem Gemüse und an Bewegung wurde ihr Blut dick, und ekelhafte Blutknoten bildeten sich unter der Haut. Aber sie beachteten diese Warnung nicht. Das nächste war, daß ihre Muskeln und Gewebe anzuschwellen begannen, das Fleisch wurde schwarz, Mund, Kinn und Lippen wurden gelblich wie fette Sahne. Statt sich im Unglück näherzukommen, freute sich jeder über die Symptome des Skorbuts beim andern.
    Sie verloren jeden Sinn für ihr Äußeres. Und daneben auch für ihre Wohlanständigkeit. Die Hütte war ein Schweinekoben, und nicht ein einziges Mal machten sie ihre Betten oder legten frische Kiefernzweige unter. Und doch konnten sie nicht so lange, wie sie gern gewollt, in den Decken bleiben, denn der Frost war unerbittlich, und der Herd verschlang viel Holz.
    Haar und Bart wurden lang und wirr, während ihre Kleider den Abscheu eines Lumpensammlers erregt hätten. Aber daraus machten sie sich nichts. Sie waren krank, niemand sah sie, und außerdem schmerzte sie jede Bewegung.
    Zu alledem kam eine neue Plage – der Schrecken des Nordens. Dieser Schrecken war ein Kind der großen Kälte und des großen Schweigens und war in der Finsternis des Dezembers geboren, als die Sonne zum letztenmal hinter den südlichen Horizont glitt. Der Natur der beiden Männer entsprechend wirkte er verschieden auf sie.
    Weatherbee fiel abergläubischen Vorstellungen zum Opfer und tat alles, was er konnte, um die Geister zu packen, die in den vergessenen Gräbern schliefen. Diese Geisterbeschwörung nahm ihn ganz in Anspruch, so daß sie in seinen Träumen aus der Kälte zu ihm kamen, unter seine Decke schlüpften und ihm ihre Sorgen und Widerwärtigkeiten aus ihrem früheren Leben erzählten. Ihn schauderte bei ihrer kalten Berührung, wenn sie sich ihm näherten und ihn mit ihren gefrorenen Gliedern umschlangen; und wenn sie ihm von kommenden Dingen ins Ohr flüsterten, hallte die Hütte wider von seinen entsetzten Schreien.
    Cuthfert wußte nicht, was es gab – sie sprachen nicht mehr miteinander – , und wenn er auf diese Weise geweckt wurde, griff er unweigerlich nach dem Revolver. Dann saß er aufrecht im Bett und zitterte, die Waffe auf den Träumenden gerichtet, am ganzen Leibe. Cuthfert glaubte, daß der andere toll würde, und begann für sein Leben zu fürchten.
    Seine eigene Krankheit nahm eine weniger bestimmte Form an. Der geheimnisvolle Baumeister, der die Hütte, Balken für Balken, errichtet, hatte auf dem Dachfirst eine Wetterfahne angebracht. Cuthfert bemerkte, daß sie stets nach Süden zeigte, und eines Tages wurde er über diesen Eigensinn so gereizt, daß er sie nach Osten drehte. Er beobachtete sie eifrig, aber kein Windhauch veränderte sie. Da drehte er sie nach Norden und schwor, sie nicht wieder anzurühren, ehe der Wind zu wehen begann. Aber die Luft erschreckte ihn durch ihre geisterhafte Stille, und oft stand er mitten in der Nacht auf, um zu sehen, ob die Fahne sich gedreht hätte – zehn Grad hätten ihm genügt. Aber nein, sie blieb dort oben unveränderlich wie das Schicksal. Seine Phantasie ging mit ihm durch, und die Windfahne wurde ihm ein Fetisch. Zuweilen folgte er der Richtung, in die sie zeigte, quer durch die Einöde und füllte seine Seele bis zum Rand mit Schrecken. Er verweilte bei dem Ungesehenen und Unbekannten, bis die Last der Ewigkeit ihn zerschmettern zu wollen schien.
    Alles hier im Norden hatte diese überwältigende Wirkung – der Mangel an Leben und Bewegung, die Finsternis, die unendliche Ruhe, die über dem Lande brütete, die geisterhafte Stille, die den Widerhall jedes Herzschlages zu einer Heiligtumschändung machte, der feierliche Wald, der etwas Entsetzliches, Unsagbares zu umfassen schien, etwas, für das es weder Worte noch Gedanken gab.
    Die Welt mit ihren geschäftigen Menschen und Unternehmungen, die er kürzlich verlassen, erschien ihm sehr fern. Die Erinnerungen meldeten sich – Erinnerungen an Märkte, Galerien und belebte Straßen, an Gesellschaftskleider, an gute Männer und liebe Frauen, die er gekannt hatte – , aber das waren dunkle Erinnerungen an ein Leben, das er vor Jahrhunderten auf einem andern Planeten gelebt hatte. Diese Phantasien waren nie Wirklichkeit. Wenn er, die Augen auf den Polarhimmel gerichtet, unter der Wetterfahne stand, konnte er sich selbst nicht überzeugen, daß das Südland

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