Der Sohn (German Edition)
Mitch möchte zuerst Jacob anrufen. Es versetzt mir einen kleinen Stich, als ich höre, wie aufgekratzt er seinen Vater begrüßt. So anders als uns.
Von einem kleinen Abstand aus studiere ich ihn, hager und groß und stark sieht er aus. Am meisten hat sich seine Haltung verändert. Stolz forsche ich nach Mädchenblicken – das da ist mein Sohn. Doch rundherum sind lauter solche gestählten Männerkörper, vielleicht nicht so attraktiv wie Mitch, aber jung und stark ist eigentlich immer schön – komisch, dass ich das früher nie so gesehen habe. Ja, Mädchenblicke entdecke ich auch.
Tess ist ein bisschen umhergegangen. Plötzlich höre ich Mitch fluchen.
»Warte mal kurz, Pap«, ruft er ins Handy, und dann rennt er wütend zu Tess hinüber.
»Komm da weg«, blafft er. »Da hast du nichts verloren. Das ist das Parade Deck, das ist nur für besondere Anlässe. Da werden Menschen geehrt, die für dieses Land ihr Leben geopfert haben.«
Tess wird weiß vor Schreck, und sofort kullern ihr dicke Tränen über die Wangen. Zerknirscht und lautlos schluchzend stellt sie sich neben mich, während Mitch sich wieder seinem Gespräch mit Jacob zuwendet.
Ich streiche ihr sanft übers Haar, verstehe ihren Kummer. Mitch schüttelt den Kopf und zwinkert Tess zu, um sie zu beruhigen, fast so wie früher, aber es scheint sie nicht sonderlich zu erleichtern, sondern eher seine Überlegenheit zu unterstreichen.
»Pap«, sagt er, »da bin ich wieder.«
Seine Stimme, auch seine Stimme wirkt anders, lauter, rauher und mit einer unbekannten Ruhe darin, befriedigt, denke ich, als habe es ihm gutgetan zu erfahren, wo die Grenzen seiner Kraft liegen, jetzt, da sein Durchhaltevermögen auf die Probe gestellt wurde und er weiß, wer er ist, wenn er Entbehrungen leidet, die den »echten« so ähnlich sind.
Den echten, auf die keine Graduation folgt.
Ich bin eifersüchtig, muss ich feststellen, auf diese Befriedigung, diese geballte Ruhe. Plötzlich blitzt in mir ein Bild von meinem Vater auf, als Sechzehnjähriger, jünger als Mitch jetzt, sechsundvierzig Kilo leicht nach zweieinhalb Jahren Konzentrationslager. In ein Land zurückgekehrt, das er nur kurz gekannt hatte, allein, ohne Vater und Mutter oder sonst irgendwen, der ihn liebhatte. Alle tot, ermordet: sein schwieriger Vater Izak, seine scheue Mutter Zewa, seine Großeltern. Er hatte die Hölle gesehen, die echte, aber Befriedigung war ihm nicht vergönnt. Kein Anlass, keine Zeit. Der Krieg, mit dem Wegfall aller Sicherheiten, hatte praktisch seine gesamte Kindheit vereinnahmt. Kein Boot Camp hatte ihn für die Schrecken getrimmt, für ihn hatte es keine Ausbilder gegeben, deren Grausamkeit nur gespielt war, im Zuge einer geheimen Agenda, deren mehr oder weniger sinnvolle Erziehungspläne etwas Größerem, Universellem dienen sollten (ja, so ist das in einer Armee wie dieser, obwohl ich es fast nicht ertrage, dass ich das denke). Die »Ausbilder« meines Vaters waren Nazis oder Kapos, denen es ausschließlich darum ging, in einer Umgebung, die auf ihre Vernichtung aus war, die eigene Haut zu retten – und dementsprechend sinnlos grausam. Es hieß fressen oder gefressen werden, töten oder getötet werden. Was hätte man daraus lernen können? Aber genau das: Die Angst und die Scham über die Erniedrigungen, genau das hatte meinen Vater geprägt und zu einem neurotischen, allzu ängstlichen, überbesorgten Mann gemacht.
Einem schwierigen Mann, der weder richtig erwachsen geworden noch imstande war, wirklich Kontakt zu seinen Töchtern zu bekommen. Was ich für meinen Vater empfunden hatte, war noch am ehesten mit einer unglücklichen Liebe zu vergleichen gewesen: einer Liebe, die nur sehr spärlich erwidert wurde und mit Gesten, die schwer zu erkennen waren. Aber gerade deshalb bewahre ich jede kleinste Faser davon bis heute im Herzen.
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Als ich jetzt höre, wie Mitch Jacob von den Greueln seines Boot Camp erzählt, die wir nur aus dem Internet kennen, werde ich fast auch noch melancholisch. The Crucible, ein Meilenstein, vier Wochen vor Schluss, ist am schlimmsten. Da werden Marines nach zwei Nächten ohne Schlaf und mit kaum etwas im Magen gezwungen, nicht nur einen Marsch zu absolvieren, sondern auch noch ein wahnsinnig langes Stück (mit Gepäck!) auf Knien und Oberarmen durch ein sogenanntes Minenfeld zu robben. Mitch hat das geschafft. Wie ruhig sein Ton ist, keine sich überschlagende Stimme, keine kindliche Ungeduld. Aber beinahe hätte er seinen Kumpel
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