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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
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ins Ohr gebrüllten Beschimpfungen, Beleidigungen, Befehlen), tut mir alles weh vor Mitleid mit Mitch.
    Aber ich bedaure den alten Mitch, den Mitch, der er vorher war. Den neuen Mitch kenne ich noch nicht. Dass er das hier gemacht hat, von allen Menschen und Jungs er!
    Ein älterer Mann geht vor uns, neben ihm seine Tochter, wahrscheinlich die Mutter von einem der Jungs, die ihre Graduation machen. Er ist offensichtlich in Gedanken versunken, ein lieber, zivilisierter Mann in beigem Mikrofaseranorak, eine Kamera um den Hals.
    Mit einem Mal sehe ich meinen Vater vor mir, ganz allein. Auch er hatte so eine beige Jacke, leicht und praktisch. Ich sehe ihn weinen, so heftig, dass ich unwillkürlich stehen bleibe.
    Doch als er zu mir aufschaut, strahlt sein Gesicht zu meinem Erstaunen vor Triumph.
    »Sie haben uns nicht untergekriegt«, flüstert mein Vater fast atemlos, genau wie nach Mitchs Beschneidung, bei der er die Rolle des Sandak hatte, desjenigen, der das Baby hält, wenn der Mohel nach Ritual ein Stück von der Vorhaut entfernt.
    Ich bleibe stehen. Atme tief durch.
    »Jetzt komm doch, Mam«, sagt Tess. »Was ist denn?«
    »Ich glaube, ich bin eigentlich furchtbar stolz auf Mitch«, sage ich.
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    Und dann dürfen wir endlich zu ihm.
    Er steht zwischen den anderen Jungs in ihren Khaki-Uniformen. Wie die anderen hat er etwas Suchendes im Blick. Wie die anderen hält er nach den Menschen Ausschau, die dreizehn Wochen lang nur in seinen Träumen anwesend waren, die ihm gefehlt haben oder vielleicht auch nicht, den Menschen, deren Bewunderung in irgendeiner Weise zählt und für die diese Tour de force vollbracht werden musste. Von meinen eigenen ersten selbständigen Reisen und Erfahrungen – so wenig vergleichbar das auch sein mag – weiß ich, dass man sich in so einem Moment vorkommt, als erwache man aus einem harten, nicht enden wollenden Traum, und das erzeugt gemischte Gefühle. Einerseits dürfte er Erleichterung empfinden, dass es vorbei ist: die Einsamkeit, zum ersten Mal allein unter Fremden, die einen nicht lieben, ja Fremden, die einen beschimpfen und demütigen und bis zum Äußersten auf die Probe stellen. Andererseits dürfte er Beschämung über diese Erleichterung empfinden und Enttäuschung über den Beifall der Lieben, der, so laut und überschwenglich er auch sein mag, niemals im Verhältnis zu all dem steht, was er in den letzten dreizehn Wochen durchgemacht hat. Und dann, nicht zu vergessen, dürfte da der unerwartete und eigentlich schwer zu begreifende vage Schmerz über den Abschied von denen sein, von denen er in diesen Monaten abhängig war, den Drill Instructors, den Schindern, an deren barsche, gewalttätige Zuwendung er sich gewöhnt hat wie ein Süchtiger, wie eine Geisel an ihre unberechenbaren Geiselnehmer. Stockholmsyndrom. Die Jungs, deren Loyalität ihm so viel bedeutet hat, scheinen in diesem Zusammenhang auch bessere, engere Freunde zu sein als alle anderen, die er je dazu gezählt hat, so wie alles, was er erlebt hat, von einer Intensität gewesen zu sein scheint, die nichts mit der Normalität seines früheren Lebens zu tun hat. Einem Leben, nach dem er sich zutiefst gesehnt hat – aber jetzt, da er die Menschen, die zu ihm gehören, wiedersieht, mit ihren sanften, kaum veränderten Gesichtern, wird er schlagartig auf den Boden der Realität zurückgeworfen, und ihm wird klar, dass das Größte und Schwerste, was er je gemacht hat, nun ein für alle Mal vorbei ist. Und das weckt außer einem nicht zu erklärenden Heimweh die fast unvorstellbare Frage in ihm, ob er wohl je wieder zu seinem früheren Rhythmus zurückkehren könnte.
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    Mitchs Gesicht, herber als früher, rotbraun gebrannt, starr von den Entbehrungen und der permanenten Anspannung, scheint einen Augenblick lang Mühe mit einem Lächeln zu haben, als er uns sieht. Aber dann hebt er Tess hoch und wirbelt sie herum wie eine Puppe. Tess kreischt.
    Ich werde umarmt und drücke Mitch so fest und lange an mich, dass er sich schließlich von mir löst und mich sanft von sich schiebt. Seine Augen sind noch nicht ganz dabei, scheint es, als er uns fragt, wie es uns gefallen hat. Ich sehe etwas Betrübtes und Ungeduldiges in seinem Blick. Er vermisst Jacob, vermute ich. Das tue ich auch. Ich halte mich an die Lüge von den Gallensteinen – an denen Jacob Gott sei Dank nicht leidet.
    Jetzt haben wir bis halb sechs Zeit zu reden und etwas zu essen. Darauf hatten Tess und ich uns jedenfalls eingestellt. Aber

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