Der Sohn (German Edition)
Minen und Abgründe hinweg angeschossen kommen wird. Bald ist Mitch womöglich in Afghanistan oder im Irak, in irgendeinem der Gebiete, wo Amerikaner gefoltert werden, wo man den Westen so sehr hasst, dass man Menschen ihren Schmollmund, ihre Erinnerungen, ihre Musik, ihr Lachen und ihre Zukunftsträume gnadenlos nimmt.
Ich schlinge die Arme um seinen Hals. Heckenschützen, Terroristen, Autobomben, Minen. Er sucht nicht länger Schutz und Geborgenheit, er bietet sie. Er beschützt uns. Auch Tess drückt sich an ihn. Eine Beschwörungsgeste.
»Unser Mann«, spöttelt sie, »unser großer Army -Mann.«
»Komm«, sage ich. »Du hast bis halb sechs frei. Wir feiern, dass du wieder da bist. Aber riskier ja keine dicke Lippe, ein richtiger Marine wirst du erst morgen.«
Jetzt lacht Mitch mit seinem starren Gesicht. Er verabschiedet sich von Jacob.
Dicke Lippe? Mitch hat nach Jacobs Erzählung, unserer Geschichte, praktisch noch kein Wort gesagt.
129
Den Rest des Nachmittags verbringen wir nicht viel anders als die meisten Familien. Wir essen im ›Bay View Restaurant‹ auf dem Militärgelände, da die Rekruten das Depot nicht verlassen dürfen. Ein großes Restaurant mit Blick auf die Bucht. Natürlich trifft Mitch dort auf einige seiner neuen Freunde, und sogar ein Drill Instructor klopft ihm auf die Schulter. Ich erschrecke, als ich sehe, wie sehr Mitch in dem Moment versteift. Wie er sofort Haltung annimmt.
Wir müssen lange anstehen, denn es ist unheimlich voll. Als Mitch endlich dran ist, würde er sich am liebsten gleich alles von der Karte bestellen, nach so vielen Wochen des Hungerns, aber schließlich begnügt er sich mit nur einem Stück Pizza. Jeder kennt die Geschichten von Rekruten, die am Family Day stundenlang todkrank über der Kloschüssel hängen, weil sie sich den Magen verdorben haben.
Bei all der Ablenkung bleibt wenig Gelegenheit zum Reden.
Und nach dem Essen möchte Mitch auch noch lieber mit seinen Freunden eine Runde Billard spielen, als bei uns zu bleiben. Ich bemühe mich, ihn zu verstehen, es ist schließlich das erste Mal seit dreizehn Wochen, dass sie frei haben.
Und es ist die letzte Nacht vor seiner Graduation.
130
Dass Mitch nach der Graduation Ceremony von den Drill Instructors die offizielle Genehmigung erhält, für eine Woche in die Niederlande zu reisen, grenzt an ein Wunder. Im Allgemeinen dürfen frischgebackene Marines das Land nicht verlassen.
Dass es ein Wunder mit großen Folgen sein wird, können wir da noch nicht ahnen.
Ohne dass ich davon wusste, hat Mitch sofort nach Erhalt meines Briefes den Antrag gestellt, nach Hause zu dürfen. Er konnte es nicht ertragen, seinen Vater nicht zu sehen.
Während der Zeremonie am Freitagmorgen, bei der er feierlich sein Abzeichen erhält, weiß Mitch noch nicht, ob seinem Antrag stattgegeben wird. Aber er hat den Drill Instructors bereits von dem Überfall erzählt und dass sein Vater niedergeschossen wurde – also gar nicht an Gallensteinen leidet. Eine Frage der Ehre, denke ich. Ich hatte sicherheitshalber Zeitungsausschnitte mitgebracht.
Als wir dann gleich nach der Graduation erfahren, dass er aufgrund der außergewöhnlichen familiären Umstände eine Woche nach Hause darf, denke ich, dass es Zeit für ein Haus hier in Amerika wird. Dieses Hin- und Hergereise wird jetzt schon schwierig.
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Auch ohne Jetlag werde ich nachts ständig wach. Meistens gerade dann, wenn die Nacht am dunkelsten ist, wenn die normale Alltagswelt wie eine niemals wiederkehrende Traumwelt erscheint und es ist, als gäbe es nur noch die Welt der Geister und der schlimmsten Gedanken. Die Angst vor dem Tod ist zu dieser Stunde ganz in ihrem Element.
Um genau diese Zeit war es, als Tess mich vor drei Wochen gerufen hat.
In der ersten und zweiten Nacht in San Diego sind wir um neun Uhr abends wie ins Koma gefallen, aber gegen ein Uhr war offenbar keine Spur von Müdigkeit mehr in uns, nur eine Art drückender Schmerz unter der Schädeldecke.
In unserer letzten Nacht in San Diego, der Nacht zum Samstag, bin ich um halb drei hellwach. Ich schaue neben mich und sehe, dass Tess weg ist.
Reflexartig reiße ich die Balkontür auf, um nachzusehen, ob sie dort ist oder, Gott behüte!, zerschmettert unten liegt. Nichts.
Tess hat den ganzen Tag über äußerst zerbrechlich ausgesehen. Nachdem Mitch sie am Family Day so angefahren hatte (was eigentlich nachvollziehbar und im Grunde harmlos war) und sie so jämmerlich geweint hat, ist es ihr
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