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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
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abgemurkst, weil der ihn so genervt habe, feixt er.
    Dann, plötzlich beunruhigt, die Nachfrage: »Bist du schon operiert?«
    Ich habe all seinen Freunden, die aus den Medien schon die ganze Zeit Bescheid wussten, sicherheitshalber eine Mail geschickt mit der Bitte, nichts von dem Überfall zu erzählen – nicht während der schweren Boot-Camp -Wochen. Auch Tess habe ich das eingeschärft.
    Jetzt hört er Jacob zu, höflich, besorgt, ganz guter Sohn, aber insgeheim natürlich enttäuscht, dass ein paar dumme Gallensteine schwerer wiegen als sein Triumph an diesem Tag, als Marine.
    Ich bin mir sicher, dass Jacob das spürt. Dass Jacob das nicht erträgt.
    Mitch hört zu, still und mit der straffen, geraden Haltung, die so neu für mich ist.
    Erschrocken bedenke ich, dass wir für diese Situation nichts abgesprochen haben. Als ich Mitchs hageres Gesicht erstarren sehe, weiß ich, dass das ein Fehler war.
    Wie schnell es um seine Ruhe und seinen Stolz geschehen ist – schlimm, das zu sehen. Es dauert aber nur den Bruchteil einer Sekunde, dann ist er wieder der Soldat, der weiß, woraus das Böse gemacht ist, und für den zwischen der Erkenntnis und der Entscheidung, was zu tun ist, nicht die kleinste Lücke klafft. No mercy.
    Wütend sieht er mich an, während er Jacob fragt: »Echt? Und man hat sie noch nicht gefasst?«
    Dann hört er wieder zu, und ich sehe, wie sein Gesicht auf Jacobs Antwort hin noch starrer wird und er Tess einen beunruhigten Blick zuwirft.
    Mir wird bewusst, dass Mitch sich jetzt schon von seinem Drill Instructor frei macht, obwohl er sich offiziell erst von morgen an Marine nennen darf. Ich fühle eine heftige Angst aufkommen, die ich sofort unterdrücke.
    Tess hat es auch mitbekommen.
    »O Mann!«, stöhnt sie. »Wieso erzählt Papa das denn jetzt?«
    Mitch hört ausdruckslos zu, fast unbeweglich steht er da, auf strammen Beinen – eine geladene Pistole.
    Warum, weiß ich nicht, aber ich muss plötzlich daran denken, wie ich ihn einmal von einem Schnuppertag in der Kinderkrippe abgeholt habe, acht Monate alt war er da, konnte gerade krabbeln. Er habe, seit ich gegangen sei, still auf dem Boden gesessen und gespielt, erzählten die Krippenleiterinnen, und sich die fünf Stunden kaum von der Stelle gerührt. Ich studierte ihn daraufhin neugierig aus der Entfernung. Auch für mich war es das erste Mal gewesen, dass wir so lange voneinander getrennt waren. Und ich versuchte irgendwie, noch kurz einen Eindruck davon zu gewinnen, wie er ohne mich war. Aber er drehte plötzlich den Kopf zur Seite und sah mir direkt in die Augen. Es war ein versengender Blick, ein Blick, der alles sagte, alles, was er schon fünf Stunden lang für sich behalten hatte, Hunger, Sehnsucht, Kummer. Und dann schoss er förmlich zu mir her, auf dem Bauch, mit seinem kleinen, molligen Leib, der zur Kugel wurde, unter einem Tisch hindurch, an einer Treppe vorbei, über andere Babys hinweg.
    Ich blicke auf Mitchs Gesicht und denke schuldbewusst und reuevoll: Unsere Horrorgeschichte ist jetzt zu viel für ihn, das muss jetzt nicht auch noch sein. Wie können wir so egoistisch sein, damit nicht zu warten?
    »Was?«, sagt er. »Und keine Spur?«
    »Mitch!«
    Ich versuche Jacobs Erzählung mit beschwichtigenden Worten, einer vagen Relativierung zu übertönen.
    »Die Polizei ist aber dran!«
    Und in Richtung Handy rufe ich: »Jacob! Hättest du nicht noch einen Moment warten können? Der Junge hat gerade seit einer Stunde frei!«
    Mitch starrt mich an. Ich nehme ihm das Handy ab.
    »Ich musste es ihm erzählen, Saar. Ich konnte das doch nicht verschweigen!«, höre ich Jacob sagen.
    Und etwas schuldbewusst ergänzt er noch, wenn irgendwer so etwas verkraften könne, dann ja wohl Mitch, nach diesem Training.
    »Nicht jetzt«, sage ich, aber dann nimmt Mitch mir das Handy beinahe erbost wieder ab.
    »Mensch, Mam«, sagt er. »Warum hast du mir denn bloß so einen Mist geschrieben!«
    »Vielleicht, weil du sonst nach Hause gewollt hättest?«
    Der Schmollmund. Dass Mitch immer noch auf diese Weise den Mund verzieht, nach allem, was in den letzten Monaten auf ihn eingewirkt hat, beruhigt mich. Schon scheinen die im Gleichschritt rennenden Marines mit ihren gestählten Gesichtern, die schreckliche Marschmusik und die verbissen zur Schau gestellte patriotische Moral nur noch ein Alptraum zu sein, der nichts mit Mitch zu tun haben kann. Doch es ist so. Ich muss mir eingestehen, dass jetzt ich diejenige bin, die jederzeit über Tische,

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