Der Sohn (German Edition)
nicht mehr gutgegangen. Komisches Wort eigentlich, gut. Was heißt schon gut? Bei Tess weiß man ohnehin nie so genau. Sie hatte von jeher ihre kleinen und großen Geheimnisse, das passte zu ihr, und es waren fröhliche Geheimnisse, die sie gern hatte. Das Leben mit Geheimnissen war für sie ein Weg zur Weiterentwicklung – so habe ich es immer sehen wollen. Wenn wirklich etwas war, kam sie zu uns. Das war »gut«. Solange es harmonisch zuging, die schulischen Leistungen okay waren, das Kind nicht zu aufmüpfig wurde, hin und wieder seinen Lachanfall hatte oder herumalberte, ging man davon aus, dass es dem Mädchen gutging.
Aber das ist vorbei.
»Geht’s dir gut?«
»Ja, ja.«
So sieht »gut« jetzt aus. Halbtot gut. Abwesend gut.
Alles ist relativ. Wie kann es dir auch gutgehen, wenn du mit einer Pistole bedroht worden und gefesselt eingesperrt gewesen bist?
Tess liegt nicht jeden Tag heulend im Bett – ist das gut, oder wäre es nicht im Grunde gesünder, wenn sie es wohl täte? Die Fassade ist ganz gut, gewiss, aber sie wirkt so oberflächlich, so viel gleichgültiger als sonst. Und sie ist mir gegenüber auch so distanziert, viel stärker als vor dem Überfall, kühl, geradezu allergisch gegen Berührungen und phasenweise extrem reizbar.
Sie gibt sich große Mühe, so zu tun, als wäre alles »normal«. Reden konnte ich mit ihr aber zuletzt kaum. Meine Ansätze strandeten unweigerlich bei ihrem einsilbigen »Ja« oder »Nein«. Hier in San Diego hat sie wahrhaftig ab und zu etwas von sich aus gesagt. Vielleicht, weil es eine Ausnahmesituation ist und sie sich so auf Mitch gefreut hat. Am Family Day ist sogar wieder kurz die alte Tess durchgekommen, als wir unsere Fähnchen geschwenkt und seinen Namen geschrien und geheult haben wie zwei Duschbrausen (Tess’ Worte).
Bis Mitch sie angefahren hat. Danach ist sie verstummt, war scheu wie eine kleine graue Maus. Hatte sie solche Angst davor, Mitch womöglich noch einmal zu verärgern, oder wollte sie nur nicht noch einmal in Tränen ausbrechen?
Bei der Graduation gestern Vormittag wirkte sie eigentlich wieder stabil, aber sie war unheimlich blass, und ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Sie kann nicht mehr, habe ich da erkannt.
Ich gehe zum Zimmer nebenan, wo Mitch schläft. Dort brennt Licht. Logisch ist das nicht – Mitch muss erschöpft sein. Ob Tess…?
Ich lege das Ohr an die Tür und versuche etwas aufzufangen. Wenn Tess mit ihrem Bruder reden will, möchte ich nicht stören – aber ich bin aus triftigem Grund neugierig. Leider ist die Tür solide und gut isoliert. Ich höre keine Stimmen, ich höre gar nichts.
Wieder in meinem Zimmer, gehe ich ins Bad und lege dort probehalber das Ohr an die Wand. Die ist weniger solide. Ich höre sofort, dass ich richtig vermutet habe.
Tess ist bei Mitch.
Sie ist schwer zu verstehen, weil sie weint. Mein armes Mädchen.
Ich will eigentlich nicht, aber ich lausche doch weiter.
Langsam, aber sicher höre ich immer besser. Es dauert fast eine halbe Stunde, dann weiß ich Bescheid.
Ich lege mich wieder ins Bett. Steif und starr. Mein Herz hämmert wie verrückt.
Wir sind verloren, denke ich. Es gibt keine Hoffnung.
Und danach spüre ich wieder die Wut. Die Wut ist mein Freund. Die Wut ist der einzige Freund, den ich jetzt ertragen kann.
132
Ich habe mir wirklich alles genau ausgemalt. Ich würde die Polizei anrufen und den Namen des Täters angeben. Ich würde erzählen, was er mit Tess gemacht hat. Dass mein Vater von ihm belästigt und – wahrscheinlich – erpresst worden ist. Dass er, mein Vergewaltiger, der Kopf hinter dem Diebstahl all unserer Wertgegenstände sein müsse. Ich würde auf Raaijmakers’ Vergangenheit hinweisen – Motive zuhauf, Herr Kommissar. Und erzählen, wie viel Lebenslust und -mut er Jacob genommen hat – von dem dauerhaften Schaden, der ihm durch die Schüsse in Magen und Schulter zugefügt worden ist, gar nicht zu reden.
All das musste dicke ausreichen, um einen Durchsuchungsbeschluss für seine armselige Bleibe zu erwirken. Ja, wenn das bei ihnen angekommen war, würden sie ihm bestimmt einen Besuch abstatten und ihn mit seinen Taten konfrontieren. Wenn sie sein Haus durchsuchten, würden sie, wer weiß, vielleicht unsere Sachen dort finden. Vielleicht auch nicht – wenn alles schon weiterverkauft war. Vielleicht war Raaijmakers vorbestraft, vielleicht auch nicht. Egal, unsere Zeugenaussage und die Fotos im Ordner würden die wichtigsten Beweise darstellen –
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