Der Sohn (German Edition)
Nur mein Vater hat das gekannt, mein Vater kannte solchen Hass. Meine Mutter hatte recht, das muss eine alte, tief wurzelnde Aggression sein, die im Laufe der Zeit immer stärker geworden ist. Und so unstillbar wie Mitchs Hunger.
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Was ich auch sage, welche Bewegung ich auch mache, an diesem Morgen geht nichts von selbst. Bei allem beobachte ich mich, sehe mich mit Tess’ Augen, mit Mitchs Blick. Ich habe mich in Gesellschaft meiner Kinder sonst immer wohlgefühlt. Aber jetzt schäme ich mich dafür, wie ich aussehe, wie ich mich bewege, spreche, atme, rieche. Für mein Leben, für alles, aber vor allem für meinen Körper.
Als Mutter ist man in den ersten Jahren vor allem das: Körper, denke ich, während ich in meinen Turnschuhen, mit meinem blöden Täschchen an der Schulter vergeblich einen Rhythmus suche. Haarsträhnen tanzen mir vor den Augen, und Kopfschmerzen quengeln dahinter.
Du trägst die Kinder aus, stillst sie, versorgst sie. Das geht fast von selbst. Dann werden sie größer – und langsam, aber sicher bist du nicht mehr so sehr Körper, sondern wieder mehr die Person, die du ja auch noch warst, früher. Das ist wie das Abstreifen einer Hülle, eine »Entpuppung«. Der Mutterkörper wird zu einer Erinnerung, einer Erinnerung, die für die Kinder nach und nach verblasst. Wie die Erinnerung an ein Bett, in dem man sehr lange gelegen hat, ein Krankenbett oder ein Kuschelbett, in dem man einen Pyjamatag lang gelümmelt hat: etwas unerhört Geborgenes, verbunden mit einer Weichheit, von der man zu gegebenem Zeitpunkt genug hat, denn man ist wieder gesund und ausgeruht und will nach draußen. Der Mutterkörper als Symbol für das Behütetsein, von dem die Kinder instinktiv wegwollen, als handelte es sich um eine Opiumsucht. Sosehr du als Mutter auch geliebt wirst, dein Körper wird Erinnerung, Abstraktum – gerade wegen der früheren Intimität. Und wenn alles in Ordnung ist (also keine Überfälle oder Vergewaltigungen), ist diese Distanzierung ein Umstand, mit dem du ohne weiteres zurechtkommst. Ich habe meine Kinder jederzeit an mich drücken können, und dann waren sie wieder so jung wie früher und ich die Mutter von damals. Eine Umarmung wie ein Zitat.
Mit dieser Unschuld ist es vorbei. Ich habe das Empfinden, dass sie mich taxieren, meine beiden Kinder, ich kneife die Pobacken zusammen, wenn ich vor ihnen gehe, richte mich auf. Mich schaudert, wenn ich mir vorstelle, dass ich ihnen leidtue und sie sich womöglich auch ein bisschen abgestoßen fühlen. Ich suche nach einer neuen Würde, jetzt, da ich mich mit diesem Makel behaftet fühle, aber ein Gesprächsgegenstand kann das nicht sein – für keinen von uns. Ich komme mir vor, als steckte ich in einer unsichtbaren Zwangsjacke, und wenn ich nicht bald mit Jacob reden kann, weiß ich wirklich nicht mehr weiter. Wie ein sorgenfreies Leben ohne Restriktionen lauert hinter dieser Verzweiflung der Wahnsinn.
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»Ich bin mitten in der Nacht aufgewacht, vom Wind, dachte ich, denn ich hatte von einem Sturm geträumt, gegen den ich anradeln musste, bis ich nicht mehr konnte. Ich kriegte kaum noch Luft, ich erstickte fast. Aber als ich wach war, merkte ich, dass das, was ich für Wind gehalten hatte, das Schnaufen von einem Mann war, der an meinem Bett stand und mir den Mund zuhielt. Der blies mir so ’nen richtigen Raucheratem ins Gesicht, echt eklig, arrrggg – ich krieg jetzt noch fast das Kotzen, wenn ich dran denk. Rauchen werd ich bestimmt nie.
Scht, machte der Mann. Ich konnte ihn nicht richtig sehen, es war zu dunkel, und ich hatte solche Angst, das kannst du dir gar nicht vorstellen, ich dachte echt, mir bleibt das Herz stehen. Bevor ich irgendwas machen konnte, hatte er mich schon aus dem Bett gezerrt und mir die Hände gefesselt. Dann merkte ich, dass noch ein zweiter Mann im Zimmer war, ich hörte ihn atmen und sich bewegen, und da bekam ich es erst recht mit der Angst zu tun. Ich hätte gern geschrien, aber dieser Arsch hielt mir die ganze Zeit seine stinkige Hand auf den Mund und sagte: ›Wenn du schreist, legen wir dich um.‹ Und da fühlte ich was Kaltes und Hartes an der Wange, und mir war klar, dass das eine Pistole war!«
Hier hörte ich Tess aufschluchzen.
»Und dann hat er mich ganz gruselig beim Kinn gefasst, weißt du, dass mir fast der Kopf hintenrüber geknackst ist. Das war so grausig, dass ich dachte, ich sterbe, jetzt ist alles vorbei. Aber es war noch lange nicht vorbei.«
Wieder schluchzt sie. Heftig.
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