Der Sohn (German Edition)
Weil wir alle zu ihm gehören, zu Herman, weil wir eine Familie sind, weil unser Feind weiß, dass er Rache gesät hat, die große, mächtige Triebe hervortreibt. So werden ganze Generationen ausgerottet, vorsorgen ist schließlich besser als heilen. Blutrache hört nicht auf. Nirgends wird Ruhe sein.
Ich renne zu Mitchs Zimmer, um nachzusehen, ob sie noch da sind. Sie schlafen. Mitch liegt auf dem Bauch, mit leicht geöffnetem Mund, und schnarcht leicht. Er auf der Luftmatratze – der Marine. Tess liegt in seinem Bett.
Noch sechs Tage. Dann ist er weg, dann werde ich ihn monatelang nicht sehen – dann beginnt die Soldatenmutterschaft eigentlich erst richtig. Dann kann er in irgendein Kriegsgebiet geschickt werden. Das kann fünf Monate dauern, ein Jahr, manchmal sogar zwei oder drei Jahre, aber geschehen wird es. Meine Kehle ist trocken.
Tess sieht sogar im Schlaf verloren aus, kleiner. Sie scheint zu schrumpfen – oder träume ich auch das?
142
Das Fenster steht offen, und der Vorhang weht ein bisschen hin und her. Ich höre die Bäume rauschen. Es ist sehr mild draußen, beinahe verführerisch, trotz der dunklen Nacht.
Es ist kein Plan. Es ist ein schnell wachsender Organismus in meinem Hirn. Ich drehe mich um und gehe ins dunkle Schlafzimmer zurück. Aus meinem Koffer fische ich meine Joggingschuhe, meine Sportsachen, die Gürteltasche, in der ich meistens mein Handy mitnehme – man weiß ja nie, was alles passieren kann.
Ich ziehe mich an. Nehme eine Strumpfhose aus dem Schrank. Dann ein Griff unter den Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer – mechanisch, könnte man schon fast sagen. Die Pistole wartet dort geduldig, wie immer – auch das könnte man sagen.
Ich weiß genau, wie viele Patronen drin sind. Auch weiß ich, dass sie funktioniert, das gibt mir Sicherheit. Ich ziele kurz nach draußen, etwa in Richtung des hässlichsten Baums in unserem Garten, des krummen Holunders, der, wie mein Vater fand, so stinkt – um zu wissen, wie so ein Ding eigentlich in der Hand liegt. Nicht schlecht, das Holz ist glatt wie Seide, und der Abzug ist wie für meinen Finger gemacht.
Ich schließe die Lider halb, ziele in Gedanken auf Raaijmakers, stelle mir vor, dass ich den Schuss auslöse (paff!), und male mir aus, wie sich die Haut seiner Brust aufkräuselt, wenn sie von der Hitze und der Wucht des Bleis aufgerissen wird. Ich sehe sein Herz in der Tiefe, seine letzten Schläge pumpen das Blut hervor, das sich ergießt wie ein dunkelroter Wasserfall.
Mir wird kein bisschen übel bei dieser Vorstellung, wie sonst meistens bei Filmen mit solchen Bildern. Im Gegenteil. Ein herrliches Gefühl der Macht vermittelt das, angesiedelt irgendwo zwischen meinem Herzen und meinem Unterleib. Genug geübt.
Ich wickle die Pistole in ein Flanelltuch und stopfe sie in die Gürteltasche. Sie passt so gerade eben hinein. Das ist gut, dann sitzt die Tasche besser am Rücken und hüpft nicht bei jeder Bewegung auf und ab.
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Gerne würde ich jeden einzelnen Schritt dieses Marathons nacherzählen – ich glaube nicht, dass ich mir je zuvor jeder Nanosekunde meines Lebens so sehr bewusst gewesen bin wie während dieses Laufs, meiner Reise ans Ende der Nacht. Wie meine Atmung war – das zuerst –, die Sauerstoffzufuhr, Voraussetzung für jeden nutzbringenden Verbrennungsprozess.
Anfangs war zu viel davon da (Folge der Hyperventilation – im Nachhinein durchaus nachvollziehbar), und dann auf einmal zu wenig, ein Mangel, der sich in plötzlich weichen Knien, zitternden Händen und gähnender Leere im Magen äußerte. Nach einigen ruhigen Atemzügen pendelte sich das wieder ein – Gott sei Dank. Ich war meinem Ziel noch keine fünfhundert Meter näher gekommen.
Danach ging es besser, auch weil ich mein Tempo anpasste. Im Dunkeln musste ich auf dem Gehweg ohnehin vorsichtig laufen und auf Pfützen und schiefe Gehwegplatten achten.
Die Nacht ist streckenweise wirklich undurchdringbar schwarz und feindselig, dann wieder, von Straßenlaternen feenhaft beleuchtet, fast weiß. Auf den Straßen ist wenig Verkehr in dieser Sonntagnacht, aber bei jedem Auto erschrecke ich heftig, zum ersten Mal wieder wie früher auf der Hut vor Männern, die mich womöglich anhalten – sie müssen ja davon ausgehen, dass ich hemmungslos bin, wenn ich in der Gegend herumlaufe, während andere schlafen. Ich muss einen ungewöhnlichen Anblick bieten, eine Joggerin mitten in der Nacht – für mich, mit meinem Jetlag, fühlt es sich praktisch
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