Der Sohn (German Edition)
noch wie Tag an.
Hin und wieder meine ich ein Auto hinter mir zu hören, aber wenn ich dann stehen bleibe und die Ohren spitze oder mich umdrehe, ist da niemand. Dass ich Dinge höre, die nicht da sind, muss ich wohl auf den Tumult in meinem Kopf zurückführen, unter anderem auf meine Ängste, die klares Denken und Hören erschweren. Diese Einsicht führt übrigens nicht dazu, dass sich Zweifel an meiner Mission einstellen.
Die Pistole liegt schwer in meinem Kreuz, aber es ist eine angenehme Schwere, ein solider Druck. Dass ich mit ihr dem Haus entfliehen konnte, vermittelt mir ein Gefühl großer Freiheit, als hätte ich meinem Gewissen, meinem alten Ich eine lange Nase gedreht. Alle Einwände, die meine Lieben möglicherweise geltend machen können und werden, sind meiner Überzeugung nach entkräftet – und damit gibt es für mich nur eine Option. Es bleibt nur ein Weg, und während ich renne, stimmt dieser Weg mich froh – verleiht mir Flügel, sagt man da wohl.
Nicht, dass ich es schon wirklich vor mir sehe, das ist noch zu schwer, dafür habe ich nicht genügend Atem übrig, aber ich habe die Pistole, meines Vaters Pistole, und ich weiß, auf wen ich sie richten muss. Mehr ist jetzt nicht nötig, und so renne ich weiter. Ich schätze, dass es von unserem Haus aus zehn Kilometer sind, nicht mehr. Das müsste ich in etwas mehr als einer Dreiviertelstunde schaffen können.
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Vom grünen Stadtrand gelange ich schon bald in die Nähe der Tangente. Ich beschließe, sie zu überqueren und quer durch die Stadt zu laufen. Die Ampel steht auf Rot, aber auf der sonst immer so stark befahrenen Schnellstraße ist jetzt ohnehin nichts los. Auch in den Straßen, durch die ich danach laufe, ist es still. Wer um diese Zeit noch unterwegs ist, scheut das Tageslicht, und das kann wohl nur zwielichtige Gründe haben, etwas Unlauteres, Krankes, Finsteres – es sei denn, der Hund musste dringend mal raus. Eine plötzliche Angst schnürt mir die Kehle zu, was mich schneller laufen und außer Atem geraten lässt.
Ich halte mich möglichst dicht bei den Häusern und sage mir, dass mein Tempo mich ganz gut gegen obskure Gestalten abschirmt, die um diese Zeit keine Zuflucht in warmen, trockenen Wohnungen suchen, sondern von irrationalen Trieben auf die Straße gezogen werden. Gestalten, die durch Alkohol oder Drogen benebelt von einer Gehwegseite auf die andere torkeln. An diesen wenigen flitze ich schnell vorbei, denn obwohl ich spüre, dass ich nicht wirklich etwas von ihnen zu befürchten habe, jagt mir ihre gespenstische Erscheinung doch jedes Mal einen höllischen Schreck ein.
Durch das Zentrum, wo ich mich weniger ängstlich fühle, renne ich zunehmend lockerer an den Nordrand der Stadt, wo ich erneut auf eine Kreuzung größerer Umgehungsstraßen stoße. Ich überquere sie an einer Ampel, im Schritttempo diesmal, um nicht aufzufallen, und laufe dann auf dem neben der Straße herführenden Schleichweg weiter. Es ist viel zu schnell gegangen. Hier irgendwo ist schon das Sträßchen, das zu dem mir bekannten Haus führt.
Ich muss plötzlich an Tara und ihre so oft gehörten rachsüchtigen Worte denken. Reden kann jeder, denke ich – ein letztes Aufflackern von altem Kinderstolz. Aber ich werde meinen Vater rächen, bevor es ein anderer tut – falls es überhaupt einer vorhat. Ich vermisse ihn hier, er schaut nicht mehr so oft zu wie anfangs, und seine Stimme habe ich auch schon seit Wochen nicht mehr gehört. Außer in dem abscheulichen Traum von heute Nacht. Sein Tod in diesem Traum war so gewaltsam, so blutig und greulich. Das passte nicht zu meinem Vater.
145
Fast dort angelangt, ziehe ich die Jacke an, die ich mir um die Taille geknotet habe.
Die Häuser in diesem Viertel sehen alle gleich aus – auch mit Brettern vernagelte Fenster sind keine Ausnahme. Die Straße, in der ich Raaijmakers zuletzt gesehen habe, ist dunkel, nirgendwo brennt Licht, und die einzige Straßenlaterne, nicht weit von seinem Haus, flackert, als wolle sie gleich den Geist aufgeben.
Noch fünfzehn Häuser bis Hausnummer 17. Ich fummle an meiner Gürteltasche, das Ding muss jetzt raus, sonst stehe ich gleich mit leeren Händen vor dem Haus. Bloß nicht nachdenken. Wozu auch?
Ich sehe sein Auto dastehen, und schockartig wird mir bewusst, dass ich mich ihm nähere. Ich fühle das, ich fühle es wie Hitze. Er ist nicht mehr nur ein Gedanke, ein Phantom, aus dem Stoff, aus dem Alpträume und schreckliche Erinnerungen gemacht sind,
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