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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
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damals war.« Er meine sich zu erinnern, dass sie aus dem Jahr 1942 oder 1943 gewesen seien. Von Westerbork sei die Rede gewesen, von Herman, von Paketen – Angst, Hoffnung, Furcht. Dass die Leeders sie so sorgfältig aufbewahrt hätten, besage einiges, fand er.
    »Und diese Leeders, was ist mit denen passiert?«, fragte ich.
    »Die sind auch deportiert worden, und das schon recht früh, Mischehe hin oder her. Sie waren Musiker. Sie hatten Menschen bei sich versteckt. Ein Teil der Familie kam nach Bergen-Belsen. Auch Fietje, aber sie überlebte den Krieg.«
    Es war immer wieder der Kontrast, den ich so erschreckend fand. Der Kontrast zwischen dem prallen Leben voller Aktivitäten, Zukunftspläne, Reisen, Entscheidungen und der labilen, unbestimmten Leere voller dunkler Schatten, dem Tod.
    Wenn ich ein Buch über Zewa schreiben wollte, brauchte ich diese Briefe. Ich beschwor Felsenrath, weiter danach zu suchen. Dabei sah ich im Geiste den Schreibtisch meines Vaters vor mir. Seine Festung. Seine Schatzkammer. Hatte er…?
    Das Dessert bestand aus einem großen Stück Apfelstrudel mit Vanillesoße. Das verschlang ich gierig, denn vom übrigen Essen hatte ich kaum etwas angerührt. Der Apfelstrudel war locker und aromatisch und weder zu süß noch zu sauer. Die delikate Vanillesoße löffelte ich sorgfältig von meinem Teller. Ohne es zu wollen, fiel mein Blick danach sehnsüchtig auf Iezebels Teller, wo noch ein genauso großes Stück lag, völlig unangerührt, bevor ich meine Mutter ansah, die mit freundlichem, aber ziemlich abwesendem Lächeln vor sich hin starrte und nur noch höfliche Floskeln von sich gab, wenn sie angesprochen wurde. Wie eine Spieluhr, die gleich abgelaufen war. Ich ging zu ihr.
    »Geht es, Mam?«, fragte ich leise.
    »Ich dachte schon, du hörst gar nicht mehr auf zu reden«, entgegnete sie. »Worüber habt ihr denn bloß die ganze Zeit gesprochen?«
    Aber ich blieb bei meinem Vorsatz. Was hatte Iezebel davon, wenn sie wusste, dass es Briefe gegeben hatte, die jetzt weg waren?
    Am nächsten Tag ließen meine Mutter und ich uns im warmen Wasser des Friedrichsbads treiben.
    »Ich fand es so schrecklich, dass er in den letzten Wochen nicht mehr sprechen konnte. Ausgerechnet Herman«, sagte meine Mutter.
    »Er hat schon noch was gesagt«, erwiderte ich, »aber ich konnte mir keinen Reim darauf machen.«
    »Der Liebe«, sagte Iezebel nur. »Komm, wir gehen ins kalte Wasser. Ich koche.«
    Sie stakste mit ihren dünnen, langen Beinen wie ein Storch aus dem Becken.
    »Nur noch einen Moment«, sagte ich. »Ich taue endlich ein bisschen auf.«
    »Aber wir sind zum Glück noch einmal zusammen gewesen, stell dir vor!«, sagte Iezebel, jetzt etwas gerader aufgerichtet, die Arme hinter sich auf den Beckenrand gestützt. »Dein Vater war so körperlich, trotz seiner Krankheit. Im Krankenhaus…«
    »Bitte?«, fragte ich entsetzt. »Körperlich?«
    Meine Mutter lächelte nur leise, bevor sie mit dem Kopf unter Wasser tauchte.
    18
     
    Wenn ich gewusst hätte, was ich jetzt weiß, wäre ich diesen Briefen natürlich aktiver nachgegangen. Womöglich hätte ich etwas verhindern, hätte den Lauf der Dinge, Pläne, Entscheidungen, Taten verändern können, wenn ich die Suche danach dringlicher gemacht hätte, oder wenn ich meine Mutter eingeweiht hätte und Mitch. Doch ich befand mich in einer Art Vakuum, einer Luftblase. Bei jeder Kleinigkeit spielte mein Herz verrückt, alles in meinem Körper fühlte sich schwach und verletzbar an, und alles tat weh. Der Tod meines Vaters hatte sich in jedem Winkel von mir eingenistet.
    Trauer ist kein fruchtbarer Gefühlszustand. Bei meiner trauernden Mutter zu sein, fiel mir schwer. Ich konnte sie nicht trösten, und im tiefsten Innern irritierte mich ihr Kummer. Der hilflose Blick, den sie mir zuwarf, wenn sie wieder einmal weinte, verriet, dass sie sich bei mir geborgen wähnte, wie ein Kind. Sie brauchte mich, und das belastete mich mehr, als ich sagen konnte. Die Abhängigkeit meiner Mutter machte mir bewusst, dass ich jetzt inoffiziell Waise geworden war. Außer meinem Vater hatte ich auch meine Mutter verloren, das heißt, die Mutter, die ich gekannt hatte. Bei wem konnte ich mich ausweinen? Jacob hatte wie immer viel zu tun – das war der Preis, den wir für das Leben in unserem Haus, unserer Umgebung bezahlten.
    Nicht, dass ich darauf aus gewesen wäre. Mir war das Haus von Anfang an viel zu groß gewesen. Und ich fand diesen Luxus naiv, diese unzähligen Zimmer, die

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