Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
Vom Netzwerk:
Und er wurde so sehr geliebt! Tess. Er war Tess’ engster Vertrauter. Sie waren die besten Freunde füreinander. Tess würde keine Nacht mehr ruhig schlafen, wenn Mitch in Afghanistan oder im Irak wäre – genau wie ich. Und Gott behüte, dass Mitch Bekanntschaft mit Grausamkeit machte. Spiel und Spaß war alles, was er kannte. Er konnte zwar durchaus ernst sein, aber mehr als alles andere war er ein Träumer, voller Phantasien und Theorien, die er aus Filmen, Büchern und Computergames bezog. Er hatte noch nichts durchgemacht, und wenn es nach mir gegangen wäre, hätte das auch noch möglichst lange so bleiben können.
    Im Warteraum am Gate starrte ich auf eine junge Mutter mit Baby im Arm. Es musste etwa sechs Monate alt sein, rund und dunkel, mit langen Wimpern. Die Mutter strich ihm mit abwesendem Gesichtsausdruck wie in Trance über den Rücken, ganz in sich versunken. Das Inbild mütterlicher Liebe – sie hielt ihr Kind, es war sicher, so sicher wie nirgendwo sonst. Ich sah, wie eine andere Frau sie anlächelte, gerührt.
    Gerührt war ich nicht. Ich sah auch nicht Wehrlosigkeit oder Schwäche darin, wie sie oft mit Müttern, Babys, Kindern assoziiert werden. Ihre Zärtlichkeit war gebündelte Kraft, Gewaltbereitschaft, die jedem galt, der versuchen sollte, dieses Kind zu rauben oder ihm etwas anzutun. Die Kehrseite der größten, stärksten Liebe war Gewalt. Ob auch der Umkehrschluss zutraf, dass sich hinter Gewalt immer Liebe verbarg, war fraglich.
    Einst war auch mein Sohn wie aus Marzipan gewesen, duftend wie ein frischgebackenes Brot, fest und zugleich weich, verletzlich, aber furchtlos. Ich hätte ihn immerzu knuddeln und küssen können. Als hätte ich ihn mit meinen Händen vor jeder Gefahr bewahren, mit meinen Berührungen beschützen können wie ein Zauberer oder ein segnender Rabbiner. Er war der Teil von mir, der mich atmen machte und mich dazu befähigte, über die Zukunft nachzudenken. Ich hatte sein weiches Bäuchlein gestreichelt, als er klein war, seine sahnigen Kniechen umfasst, ihm über das runde Köpfchen gestrichen. Er hatte nach mir geschrien, als Baby, als kleiner Junge, er war unzählige Male eng an mich geschmiegt eingeschlafen. Wenn er unartig war, hatte ich ihn energisch am Arm gefasst, aber niemals geschlagen. Wenn ich ihn streng ansah, hatte er meinen Blick zuerst frech erwidert, war aber schon bald unsicher geworden und hatte schuldbewusst seinen berühmten Schmollmund gezogen, mit dem er mich gleich wieder für sich einnehmen konnte. Er musste immer lachen, wenn ich ihn küsste. Später hatte ich ihn auch oft angeschrien und mit wüsten Vorwürfen bombardiert, wenn seine Dickköpfigkeit ohnmächtige Wut in mir auslöste. Aber er konnte mir immer Paroli bieten, und danach vertrugen wir uns wieder. Er sorgte dafür, dass ich mich im grellsten Licht sah, aber niemand anderer machte mich so menschlich und echt, ja gelegentlich sogar gut.
    Er hasste es, wenn ich böse auf ihn war, aber noch schlimmer war es für ihn, wenn irgendetwas, was er getan hatte, mir sichtlich Kummer bereitete. Das nutzte ich manchmal aus, und das war Erpressung. Ob ich das jetzt wollte? Ich wusste es nicht.
    Das Außergewöhnlichste an Mitch war, dass ich ihn genauso zärtlich stimmen konnte wie er mich. Manchmal wuschelte er mir mit der Hand durchs Haar, weil ich so einen lieben Kopf hätte.
    Unsere Beziehung war so eng, dass ich ihm alles verzeihen würde.
    Bis aufs Sterben.
    41
     
    Es war noch hell, als ich in meinem Hotel ankam. Als ich über die Oakland Bay Bridge nach Berkeley hineingefahren war, hatte ich die Golden Gate Bridge in der Ferne schimmern sehen und war für einen Moment bereit gewesen, mich überwältigen zu lassen. Doch dann war gleich wieder die Angst da gewesen. Von der Großartigkeit dieser Brücke, die ich einmal so schön und imposant gefunden hatte, von all diesem Gold, all dieser Vermessenheit beeinflusst, war Mitch auf den Gedanken gekommen.
    Es war Jacobs Schuld. Er hatte die Kinder immer wieder in die USA mitgeschleppt, damit sie vom Abenteuer der freien Welt, dieser »Erfindung der Demokratie«, kosteten. Er hatte mich dazu überredet, sie hier zur Welt zu bringen. Ich wäre bei der Geburt tausendmal lieber zu Hause gewesen, wo ich meine Eltern und meine Freunde in der Nähe gehabt hätte. Außerdem hatte ich mich über die Bevormundung in den USA schwarzgeärgert. Schmerzen gelten in amerikanischen Kliniken als gefährlich, weil man eventuell dafür verklagt werden kann.

Weitere Kostenlose Bücher