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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
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Anhänger, den ich Mitch vor zehn Jahren aus Santa Fe mitgebracht hatte, ein Kristall, der von einem Jaguar aus Silber umklammert wurde. Er baumelte am Fußende des Bettes. Auf der Schreibtischplatte unter Mitchs Hochbett sah ich nun auch Hermans Gedenkbuch. Es diente zwar zur Erhöhung der darauf stehenden Lampe, aber immerhin.
    Drei Beweise der Anhänglichkeit. Ich war schon wieder gerührt. Das konnte aber auch auf meinen Schlafmangel zurückzuführen sein. Ich war kurz versucht, mich auf Mitchs Bett zu legen, obwohl es im Zimmer fürchterlich nach Schweißfüßen stank. Vielleicht ginge das auch zu weit. Aber wenn ich mich nun einen Moment auf diesen Stuhl setzte und die Augen schloss, dagegen war doch wohl nichts einzuwenden…
    Mitch war plötzlich wieder ganz nah, das machte die Schmuddeligkeit des Zimmers schon etwas weniger schmuddelig. Und war dieses übelriechende Allerheiligste nicht auch irgendwie ein Teil von mir?
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    Als ich die Augen mit Mühe wieder aufschlug, war es dunkel. Geräusche draußen auf dem Flur hatten mich geweckt, aber hereingekommen war niemand. Ich fühlte mich gerädert, und mir war heiß und zugleich furchtbar kalt. Gut, dass ich aufgewacht war, bevor ich in Tiefschlaf fallen konnte. Himmel, wie spät war es überhaupt? Ich knipste das Licht an.
    Es musste neun Stunden früher sein als die vier Uhr, die meine Armbanduhr anzeigte. Aber wie spät genau, konnte ich beim besten Willen nicht ausrechnen. Ich kam jedes Mal durcheinander. Besser, ich verabredete mich morgen mit Mitch, als partout hier auf seine erstaunte Reaktion warten zu wollen.
    Das Nickerchen hatte zwar meine Kopfschmerzen gelindert, mich aber in eine der Zeit enthobene Zwischenzone versetzt, in der Kinderängste regierten, Verlorenheit, tiefe Traurigkeit. Wo war Mitch denn bloß?
    Es blieb gespenstisch still in dem abscheulichen Zimmer, wenngleich das Licht der Lampe das Chaos ein wenig milderte. Mir wurde klar, dass natürlich keiner gern in so ein Loch zurückkehrte. Wenn man schlafen musste, blieb einem nichts anderes übrig, und im Dunkeln war es bestimmt durchaus gemütlich, sich zu dritt einen so engen Raum zu teilen, aber jede weitere Sekunde in diesem Zimmer war reine Zeitvergeudung.
    Ich schrieb Mitch eine Nachricht und legte sie auf sein Bett. Dann nahm ich meinen Mut zusammen und trat auf den Flur. Unit 3 war kein Ort für Mütter. Mühsam humpelte ich den Flur hinunter, wo jetzt mehr Betrieb herrschte. Aber niemand nahm von mir Notiz. Ein bisschen entmutigt nahm ich den Fahrstuhl nach unten. Ich fürchtete, dass diese missglückte erste Mission ein Vorzeichen war.
    46
     
    »Hallo, Mam.« Mitchs Stimme am Telefon klang zögernder und behutsamer als sonst. Irgendwie fremd.
    Er wusste von Jacob, dass ich den Brief gestern erst zu sehen bekommen hatte. Da war er jetzt natürlich auf der Hut.
    »Ich bin bei dir«, sagte ich.
    »Ja?«
    »Ich meine, ich rufe aus Berkeley an, ich bin hier. Um dich zu sehen. Ich habe deinen Brief gelesen.«
    »O Gott!«
    Gerade noch hatte ich Mitchs Stimme Freude entnommen. Die hatte sich jetzt verflüchtigt.
    »Tut mir leid«, sagte ich.
    Es blieb einen Moment still. Ich fuhr fort.
    »Ich habe dir Lakritze mitgebracht.«
    »Mensch, Mam. Deswegen bist du ja wohl nicht hier! Wo bist du jetzt?«
    »Ich war gerade in deinem Zimmer. Bin dort sogar kurz eingenickt. Aber du kamst und kamst nicht.«
    »Eingenickt? In unserer Suite? Gott, Mama, wenn ich gewusst hätte, dass du kommst! Es war wohl leicht versifft, was?«
    »Total versifft. Aber ich habe einen Jetlag und falle um vor Müdigkeit. Ich möchte dich unbedingt sehen. Am liebsten sofort. Wo bist du jetzt?«
    »Ich kann nicht, Mama. Ich muss zu einem Studiengespräch, und danach habe ich ein Spiel… Warum bist du hier, Mam?«
    »Was meinst du wohl?«
    »O nein, bitte nicht!« Mitch fehlten die Worte. »Du hast eine heilige Mission zu erfüllen, hm, Mamilein? Aber es hat keinen Sinn, das kann ich dir gleich sagen.«
    »Wir werden sehen.«
    »Wollen wir uns für morgen Vormittag verabreden? Ich muss erst um zwölf zur Vorlesung.«
    »Okay«, sagte ich. »Morgen Vormittag.«
    Wir verabredeten Zeit und Ort. Obwohl er mir keinerlei Hoffnung gemacht hatte, konnte ich danach sogar schlafen.
    47
     
    Als er das Café betrat, erkannte ich ihn gar nicht gleich. Das lag durchaus in meiner Absicht. Ich wollte ihn, und sei es nur für einen kurzen Moment, mit fremden Augen anschauen. Er trug ein verwaschenes grünes T-Shirt und hatte sich

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