Der Sohn (German Edition)
sein, dass Mitch, unser Mitch – mein Mitch – das wollte?
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Marine.
Hatte ich Vorurteile? Ich sah dabei jemanden vor mir, der den Drang hatte, sich zu beweisen, der in der Todesnähe die Wahrheit suchte, der Klarheit und Disziplin brauchte, Lob und Strafe. Jemanden, der sich nicht mit den Anreizen eines selbstgestalteten Lebens zufriedengab. Der zu rastlos war, zu wenig konzentriert, um Spaß an Spiel, Wissenschaft, Technik zu haben. Der zu hektisch war, um nach dem Schönen zu suchen, dem das Selbstvertrauen fehlte, in »normaler« Arbeit, »normalen« Interessen, »normaler« Zerstreuung aufzugehen.
Ich hatte mir immer vorgestellt, dass Marines Jungs waren, die sich mit der Schule schwergetan hatten, Drop-outs, die eine Niederlage nach der anderen eingesteckt hatten, die etwas Selbstzerstörerisches hatten und Vergessen suchten im Alkohol oder Glücksspiel, Jungs, die etwas suchten, wo sie mit ihrem mangelnden Verantwortungsbewusstsein unterkamen, die sich in dem Leben, das ihnen zugedacht war, langweilten und von sich aus so unsicher waren, dass sie glaubten, nur der äußerste Ernst könne etwas für sie sein. Nur Krieg und drohende Gefahr.
Aber nicht Mitch. Mitch war all das nicht. Mitch langweilte sich nie. Mitch war immer gut in der Schule gewesen, an allem interessiert. Und an Alkohol lag ihm gar nichts.
Warum hatte ich einen Sohn, der die Nähe des Krieges suchte? Wie sollte ich mit so einem Sohn leben?
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Und dann hielt das Taxi schon vor dem Studentenwohnheim, in dem Mitch seit dem letzten Sommer wohnte, denn es befand sich praktisch auf gleicher Höhe mit meinem Hotel in einer Parallelstraße zum Bancroft Way. Mit zwei anderen Studenten teilte sich Mitch eine sogenannte Suite, voll fett, wie er fand. Nur auf seinem Stockwerk sei’s ein bisschen unruhig, weil fast jeden Tag irgendeine Party gefeiert werde. Unit 3 sei trotzdem dope, denn es sei ganz nah am Campus, vor allem an der Dwinelle Hall, wo er oft Vorlesungen habe. Auch das Essen sei ganz okay.
Letzteres hielt ich angesichts des Geruchs, der mir entgegenschlug, für kaum möglich. Das Haus miefte nicht nur nach verkochtem Essen, sondern auch nach einem Mix aus Rost, Müll, Schweiß, Urin und dreckigen Socken. Ein penetranter Altes-Gemäuer-Mief.
Ich humpelte zum Fahrstuhl, der zwar ziemlich fertig aussah, mich aber trotzdem unter lautem Quietschen in den dritten Stock hinaufbeförderte.
Die Stille im Haus schien mir eine Stille vor dem Sturm zu sein, denn sie kontrastierte stark mit dem Gestank und den weiteren Belegen für chaotisches Leben, die sich überall auf dem Stockwerk in Form von Graffiti und an die Wand gepinnten Ankündigungen fanden. Auf den Fluren standen einige Fahrräder, ansonsten sah es leer, verwahrlost, schmutzig aus. Zwei asiatische Studenten steuerten mit großen schwarzen Tragetaschen auf einen Raum zu, der wie eine Küche aussah.
An der Tür von Zimmer 515 hingen ein Poster der Rockband Creed, eine kleine niederländische Fahne und ein Foto von Pamela Andersson zu ihren Glanzzeiten.
Ich holte tief Luft und klopfte dreimal. Keine Antwort. Ich klopfte noch einmal, jetzt lauter. Wieder blieb es still. Als ich die Klinke runterdrückte, ging die Tür zu meinem Erstaunen einfach auf, und ich humpelte zaghaft hinein.
Ich stieß auf ein schummriges Zimmer mit drei Hochbetten an den Wänden, darunter die Schreibtische. Wie konnte man hier bloß studieren? Der Fußboden war mit allem Möglichen übersät, Coladosen, einer leeren Whiskyflasche, Büchern, Kleidern und anderem Krempel, die Betten wagte ich mir gar nicht anzusehen. Aus allem sprach eine fundamental andere Auffassung von den Prioritäten, die man im Leben zu setzen hatte. Warum sollte man Sachen wegräumen, die man ja doch wieder brauchen würde? Warum Ordnung schaffen, wenn hier in kürzester Zeit wieder das reinste Chaos herrschte? Und warum sich die Mühe machen, wenn die anderen es auch nicht taten?
Beim Militär wird er sich das schon abgewöhnen, dachte ich.
Und erschrak über diesen Gedanken.
Keiner der Bewohner hatte sich offenbar mit persönlichen Fotos an der Wand oder einem kleinen Regal mit Lieblingsbüchern outen wollen. Doch bei näherer Erforschung – nach kurzem Schlucken – entdeckte ich unter einer wenig vertrauenerweckenden Pferdedecke den Quilt auf Mitchs Bett, den Iezebel ihm vor einigen Jahren geschenkt hatte. Mitch schien direkt darunter zu schlafen, denn Bettwäsche sah ich nicht. Außerdem entdeckte ich noch den
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