Der Sohn (German Edition)
Zeit hinzukommen, desto dicker und fester und undurchsichtiger wird die Schicht. Bis du feststellst, dass du das Schlimme gar nicht mehr richtig erkennen kannst.
Heute Nacht hatte ich meinen Vater vor mir gesehen, ohne dass mich der Schmerz über sein Wegsein gelähmt hätte. Und DAS TIER hatte ich erschossen, bevor er mich zu Boden werfen konnte, und von mir abgewischt. Und jetzt war ich gerüstet, Mitch umzustimmen.
»Gern«, antwortete ich auf seine Frage nach dem Kaffee. »Gehst du ihn holen? Hier hast du Geld. Ich bin nicht so gut zu Fuß.«
»Du Arme.«
»Es geht schon«, sagte ich. »Ich möchte einen ganz großen Cappuccino.«
Mitch stellte sich vor der Theke an. Da stand er, mein Sohn. Seine Hose schlotterte und rutschte ihm fast von den Hüften. Früher war er ein bisschen dicklich gewesen, jetzt war er groß, kräftig und muskulös. Seine Schultern schienen noch etwas breiter geworden zu sein, seine Arme auch. Er schaute sich nicht um. Er wusste, dass ich zu ihm hinsah. Ich sah ihn den Kaffee bestellen und auf die Muffins zeigen, die in der Glasvitrine lagen. Er wandte sich mit fragendem Blick zu mir um. Ich schüttelte den Kopf. Er nahm zwei.
Mit Kaffee und Muffins auf einem Tablett kam er zurück. Er lächelte, unversehens stolz. Das war sein Café, ich war sein Gast.
Ich holte tief Luft, aber Mitch kam mir zuvor.
»Lass es, Mama, es hat keinen Zweck. Lass mich das einfach tun.«
Sein Gesicht war glatt und weich wie früher, aber knochiger. Sein Blick lächerlich ernst. Er hatte immer noch diese vollkommen symmetrischen Brauen.
Ich sah ihn nur an.
»Geh nicht! Geh nicht!«, flehte ich.
Mitch schaute sich erschrocken um. »Mama, please !«
»Entschuldige«, flüsterte ich, jammerte aber weiter. »Die US - Army erscheint dir vielleicht heldenhaft und cool und spannend, aber es ist schrecklich und schlimm und schmutzig und stupide und abscheulich, dazuzugehören! Es ist lebensgefährlich, in den Einsatz geschickt zu werden! Lebensgefährlich! Die Jungs da sterben! Glaub mir das doch bitte. Glaub mir. Wir wollen nicht, dass du das machst.«
Mitch schüttelte den Kopf.
»Wer ist wir?«, fragte er. »Will Papa das etwa auch nicht? Papa findet es toll, hat er gesagt! Er unterstützt mich voll und ganz. Er hat sogar gesagt, er wünschte, er hätte dasselbe getan, als er jung war. DU willst es nicht! DU ! Du bist meine Mutter, und alle Mütter haben Angst, das ist logisch. Aber, Mama, Angst bringt einen nicht weiter, das weißt du doch auch!«
»Und was meinst du wohl, wie Tess darüber denkt?«, fuhr ich ihn an.
Hierauf wusste Mitch nichts zu entgegnen.
Ich nutzte die Gelegenheit, um alles noch einmal zu wiederholen. Fasste ihn beim Arm.
»Du musst das nicht wollen, Mitch! Tu es nicht! Tu es bitte nicht!«
Er zog seinen Arm weg und schaute sich um. Ob irgendwer es gesehen hatte.
»Nicht, Mam! Bitte!«
Er lachte sogar kurz auf, als sei er geschmeichelt und erstaunt über meinen Ernst, meine sichtliche Verzweiflung. Als mache ihn das zum volljährigen, selbständig agierenden Mann.
Wie jung er noch war.
Dann wurde er plötzlich unwirsch.
»Können wir nicht in dein Hotel gehen oder so? Hier ist das echt unmöglich, hier sind lauter Leute, die mich kennen.«
Ich nickte stumm.
48
Mein Hotelzimmer war noch nicht saubergemacht worden. Ein gebrauchtes Handtuch und Kleider hingen über dem Schreibtischstuhl. T-Shirts lagen auf dem ungemachten Bett.
»Ganz schön unordentlich, Mama«, feixte Mitch, aber mit verkniffenem Mund.
Die Sonne – so früh schon – warf unzählige Lichtflecken auf den Fußboden und das Weiß des Bettes, das dadurch aufzuleuchten schien. Durch die geöffneten Fenster wehte ferne Musik zu uns herein. Die Welt ist nicht überall so angespannt, dachte ich. Es gibt immer Orte, wo Menschen sich wohl fühlen und einfach in den Tag hinein leben.
Geniert zupfte ich die Bettdecke zurecht.
»Okay«, sagte ich zittrig, aber ein wenig ruhiger. »Hier kann ich dich wenigstens nicht blamieren, wenn ich wieder in Tränen ausbreche…«
»Mama…« Seine Stimme hatte einen versöhnlichen Ton. Ich sah, dass er mich leicht beängstigt anschaute. »Es ist so schwer zu erklären… Aber zum ersten Mal habe ich… habe ich mich für etwas entschieden, weißt du, aus eigenem Antrieb. Das ist echt wichtig für mich. Ich kann nicht mehr zurück. Ich will auch nicht mehr zurück.«
Genau das hatte ich erwartet, aber was ich nicht erwartet hatte, war, dass ich auf einmal nichts mehr
Weitere Kostenlose Bücher