Der Sohn (German Edition)
zu erwidern haben würde. Mir dämmerte, dass ich vielleicht schon lange im Abseits stand. War dieser Besuch also nur ein rite de passage ?
»Versuch es mir doch zu erklären. Lass es mich verstehen, lass mich verstehen, wie du dazu gekommen bist…«
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Zunächst zögernd, dann aber allmählich immer selbstbewusster erzählte Mitch, wie sehr es ihn seit seiner Ankunft in Berkeley nervös gemacht habe, dass hier offenbar jeder alle möglichen Überzeugungen vertrat. Überzeugungen seien hier etwas, womit man sich schmücke wie mit Totenkopfringen am Finger oder Tattoos oder Piercings. Die trage hier im Übrigen auch jeder, in großer Menge und Vielfalt. Auf dem Campus gebe es jeden Tag Stände, an denen von morgens bis abends Überzeugungen an den Mann gebracht würden, mit Stickern für oder gegen die Abtreibung, Flyern gegen den Krieg oder Army -Wimpeln für den Krieg, Broschüren über die Unterdrückung in Afghanistan, Nicaragua, Kuba, China, Nordkorea, Südafrika, ganzen Wälzern über die Unterdrückung von Gefangenen durch die USA selbst, in Guantanamo, in San Quentin. Die einen informierten über die vermaledeite Todesstrafe in den USA , andere traten für die Sache der Palästinenser ein, und wieder andere zeigten grauenhafte Fotos von palästinensischen Attentaten. Man könne sich auf der Stelle den unterschiedlichsten Glaubensgemeinschaften anschließen, auch Chabad und Scientology würben kräftig um die Seelen. Und dann sehe man Frauen in schwarzen Burkas zwischen megacoolen Dudes in löchrigen und zerfransten Designerjeans und -shirts rumlaufen.
Diese vielen gegensätzlichen Gruppierungen hätten ihn anfangs eingeschüchtert, gestand Mitch. Es sei ja nicht so, dass er selbst keine Überzeugungen habe, aber bei ihm wechselten sie immer so schnell (wenn sie denn überhaupt deutlich artikuliert gewesen seien), dass er sich nicht vorstellen könne, sie je irgendwo auf einem öffentlichen Platz zu vertreten. Sich dem Kampf gegen eine bestimmte Ungerechtigkeit zu verschreiben, nur um hip zu sein, das könne er einfach nicht. Er verstehe selbst nicht, wieso er nicht einfach mit einem Lachen darüber habe hinweggehen können, dass andere bereitwillig ihre Freizeit für die widersprüchlichsten Auffassungen und Meinungen opferten. Vielleicht, weil ihm all das umso deutlicher gemacht habe, dass es ihm an etwas fehlte. An der Fähigkeit, sich zu entscheiden.
Das hatte ich ihm früher tatsächlich hin und wieder gesagt: »Mitch, du solltest wissen, was du willst! Sei nicht so unentschlossen. Mach einfach was!«
Er hatte daraufhin immer nur irgendwas gegrummelt. Er litt unter der Qual der Wahl, dem Zuviel an Möglichkeiten. Lieber tat er gar nichts, als etwas zu tun, was er nicht uneingeschränkt gut oder wichtig und für sich interessant fand.
An dieser Eigenschaft hatte ich von jeher Anstoß genommen, weil sie zu nichts führte. Unermüdlich hatte ich versucht, Mitch zu dezidierten Entscheidungen zu ermuntern, für Bücher, Hobbys, Sportarten, die ich wichtig für ihn fand, zu begeistern. Paradox, ich weiß.
Ich fragte mich jetzt, ob es wohl richtig gewesen war, seine Spinnereien, wie ich es genannt hatte (nach Berkeley zu gehen, um ein Jahr Filmwissenschaft zu studieren – vor allem aber Fußball zu spielen, sein endloses Auf-Dosen-Schießen, sein Faible für Sport, für Computergames, Gewehre und Messer, die begeisterte Lektüre von Zeitschriften über Waffen und Flugzeuge), abzutun als nicht weiter ernstzunehmende Zwischenschritte auf dem Weg der Reifung für Dinge, die mir als die »wahren« erschienen, was immer ich mir auch darunter vorstellte. Mitch ließ sich Zeit mit der Entscheidung für die »wahren Dinge«, der Entscheidung für ein Interesse, ein Fach, einen Traum, wie ihn jeder Jugendliche idealerweise haben sollte, um wirklich erwachsen werden zu können – zumal in den Augen seiner Eltern, die sich danach sehnen, beruhigt loslassen zu können. Mitch blieb unentschieden, in allem.
Aber dann sei er auf Code Pink gestoßen, erzählte er jetzt, eine ziemlich einflussreiche antimilitaristische Aktionsgruppe. Ihr gehörten die typischen Vertreterinnen der Latzhosenfraktion an, aber auch Mädchen, die ihm eigentlich ganz gut gefielen. Umso schlimmer. Sie hätten gegenüber vom Rekrutierungsbüro der Marines in der Shattuck Avenue protestiert. Eine von ihnen habe sich ausgezogen.
Wütend hätten sie die unlauteren Tricks angeprangert, die die Rekrutierer angeblich benutzten, um ahnungslose
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