Der Sohn (German Edition)
am Kinn ein strohiges Bärtchen stehen lassen. Komisch, das kannte ich nicht, dass bei ihm etwas spross, ohne dass ich davon wusste.
Trotzdem war er ganz Mitch. Mit den vertrauten Schultern und Armen in diesem T-Shirt. Händen, die bereit waren, mit einem Gewehr umzugehen.
Er strich sich mehrmals über sein Ziegenbärtchen. Das gab ihm offenbar Halt. Genau drei Sekunden lang hielt ich es durch, es zu ignorieren.
»Du meine Güte, Mitch«, sagte ich, »du hast einen Bart! Wo ist dein Kinn geblieben?«
Mitch brummte abwehrend. Dumme Bemerkungen und blöde Fragen. »Ich hatte keine Zeit, mich zu rasieren«.
Ach wo, dachte ich, dieses eitle Bärtchen deutet auf Stolz und Selbstverliebtheit nach einer schwierigen Entscheidung hin. Veränderungen des äußeren Erscheinungsbildes sollen immer dazu dienen, etwas Neues aus sich zu machen, sich vom Bisherigen zu distanzieren und das Bild, das andere von einem haben, über den Haufen zu werfen. Am besten auch gleich das, das man von sich selbst hat. Ich hoffte nur, dass das positiv zu werten war.
»Ach, Mitch«, sagte ich.
»Ja, und? Ich dachte mir schon, dass du Probleme damit haben würdest.«
»Nein, es steht dir.«
Mitch blickte zu Boden.
»Das meine ich nicht«, sagte er.
»So?«
»Wieso hast du nichts von deinem Unfall gesagt?«, brummte er.
»Weiß nicht.«
»In der ersten Woche dachte ich, du wärst so böse, dass du gar nicht auf meinen Brief reagieren wolltest. Dass du das Ganze einfach totschweigen wolltest oder so. Ich hab kein Wort gehört!«
»Aber Schatz, ich habe den Brief erst gestern gelesen. Papa hat ihn mir erst gestern gegeben!«
»Ich weiß. Aber wieso?«
»Er wollte uns beide schützen, glaube ich. Dich wollte er nicht beunruhigen, und mir wollte er einen weiteren Schock ersparen. Du kennst doch Papa!«
Mitch lachte nicht.
»Was hat er dir erzählt?«, fragte ich, plötzlich beunruhigt.
»Dass du angefahren worden bist.«
»Okay. Na, es geht mir schon viel besser. Nur mein Knöchel, Außenband gerissen.«
»Ich hab nach meinem Brief noch mal angerufen, aber Papa sagte, du hättest schrecklich viel um die Ohren.«
Jacob ist das wirklich sehr gründlich angegangen, dachte ich.
»Für dich habe ich doch immer Zeit.«
»Deshalb dachte ich ja, dass du mir böse bist.«
»Ich bin auch böse. Ich bin so böse, dass ich gleich das nächste Flugzeug genommen habe.«
»Echt?«
Er sah plötzlich sehr jung aus.
»Bist du wirklich sauer?«
»Nein, ich habe Angst. Ich habe eine Heidenangst, und ich möchte nicht, dass du das machst. Ich verbiete es dir.«
Mitch öffnete den Mund, bereit, in Lachen auszubrechen, wenn der Moment kam. Aber ich verzog keine Miene.
»Ich weiß, dass du über achtzehn und sogenannt volljährig bist, aber das ist Humbug. Du kannst so etwas nicht allein entscheiden. Du kennst dich doch noch gar nicht. Du weißt doch gar nicht, was du da anfängst. Oder was es sonst noch alles gäbe, was besser, sinnvoller wäre!«
Mitch spannte die Kiefermuskeln an.
»Ich möchte das, Mama«, sagte er. »Und ich werde es machen. Tut mir leid. Dann werde ich schon herausfinden, wer ich bin. Zum ersten Mal weiß ich, was ich will, und das kannst du mir nicht nehmen. Echt nicht.«
Darauf wusste ich nichts zu sagen.
»Wirklich sehr nah am Campus, deine neue Bleibe«, sagte ich nach kurzem Schweigen. »Das ist morgens bestimmt ganz praktisch.«
»Stimmt«, sagte Mitch, »ich bin im Nu da.«
Er sah noch ganz verschlafen aus – auch das Café, in dem wir uns verabredet hatten, ›Caffè Strada‹ an der College Avenue, ein typisches Studentencafé, war in unmittelbarer Campusnähe.
»Eigentlich schlaf ich noch halb, entschuldige. Ich brauche einen Kaffee. Du auch?«
Es war halb acht.
Obwohl ich nach hiesiger Zeit schon sehr früh am Abend ins Bett gegangen war, um acht etwa, hatte ich bis sechs Uhr durchgeschlafen. Eigentlich zum ersten Mal seit der Konfrontation mit DEM TIER . Durch die Flut der Träume in dieser Nacht kam es mir so vor, als hätte ich unglaublich viel erlebt, wie in einem Film mit einer Geschichte, aus der ich gelernt zu haben schien, voller Abenteuer, die mich größer gemacht hatten. So funktioniert das also, dachte ich, das große Vergessen. Du schläfst und du lebst, und Schicht um Schicht legt sich über deine Erinnerungen. Die Träume breiten eine Decke darüber, genauso wie über deinen Schmerz und deinen Kummer. Zunächst ist die Decke noch durchsichtig und hauchdünn, doch je mehr Lagen mit der
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