Der Sohn (German Edition)
vorstellen. Manchmal hasste ich ihn heftig und verzweifelt für sein nachdrückliches Schweigen, wenn ich wieder einmal wegen Mitch jammerte, aber allein als sein Vater brachte er mir Mitch näher als irgendwer sonst. Das Jammern kam mir im Übrigen immer sinnloser vor, nicht nur weil meine anklagenden Worte abprallten, sondern auch weil ich das komische Gefühl hatte, dass meine Aggression die Entsendung Mitchs in ein Gebiet voller Minen und Terroristen eher noch wahrscheinlicher machen und ihn somit in Gefahr bringen würde.
Jacobs Schweigsamkeit sei typisch Mann, sagten meine Freundinnen. Vor allem meine Freundin Kyra hatte diesbezüglich eine dezidierte Meinung. Mit sichtlicher Genugtuung verkündete sie, dass Jacob keine Angst »zulassen« könne, weil »dieser Bereich in ihm« von Kind auf »tabu« sei. Derlei vage Deutungen hatten sie alle in petto, und damit war mir weniger denn je gedient.
Ich brauchte handfeste Worte, wie ein Bergsteiger seine Steigeisen. Aber viel mehr als unverbindliche Floskeln fiel den meisten nicht ein. »Ach Liebes, man kann ein Kind nun mal nicht festbinden.« – »Angst ist kein guter Ratgeber.« – »Was geschehen soll, wird geschehen, daran kannst du nichts ändern.«
Nein, von meinen Freundinnen hatte ich nicht viel. Ihre Kinder fingen an zu studieren oder studierten schon, und wie alle Eltern litten auch sie unter dem Schmerz des Loslassens, wenn die Kinder mit Rucksack – und tollem Handy in der Tasche – in der Welt umherreisten. Sie taten alle so, als säßen wir im selben Boot, aber ich weigerte mich trotzig, dem beizupflichten. Vielleicht wollte ich auch gar keinen Trost und keine Hilfe, wie mir allmählich aufging. Meine Angst und ich waren so enge Verbündete geworden, dass die Einmischung anderer nur Unglück bringen konnte.
Nicht zum ersten Mal sagte ich mir, dass unsere Entscheidung, die Kinder einen Teil ihres Lebens (Tess die ersten sechs Jahre, Mitch die gesamte Grundschulzeit) auf einem anderen Kontinent verbringen zu lassen, uns von den meisten unserer Freunde entfremdet haben musste. Es war eine spürbare Distanz entstanden, eine kleine Mauer des Unverständnisses, vielleicht auch der leichten Verärgerung und Kränkung, genährt von provinzieller Missgunst. Und das machte unsere Sorgen und Nöte für sie gerade dieses kleine bisschen zu unvorstellbar, um wirklich mit uns sympathisieren zu können.
Dann gab es natürlich auch noch die Schadenfreude – an die ich gar nicht denken mochte. Im Zuge von Jacobs Erfolg hatte sich ein Graben zwischen alten und neuen Freunden aufgetan, und neben denen, die neidlos verfolgten, dass er jetzt im Blickpunkt des öffentlichen Interesses stand, und nicht anders mit uns umgingen als früher, gab es auch welche, die nur so taten als ob. Bei den vielen neuen Geschäftsfreunden suchte ich ohnehin keine Unterstützung.
Ganz generell schien die Meinung vorzuherrschen, dass es sinnlos sei, sich mit Ängsten auseinanderzusetzen. Während ich einen meiner schwierigsten Lebensabschnitte durchmachte (das dachte ich jedenfalls damals), war ich offensichtlich von lauter Menschen mit urgesunder Psyche umgeben, die unverdrossen mit der Gegenwart befasst waren und gern auf die düsteren Zukunftsbilder verzichten konnten, die ich verbreitete, und auf melancholische Gedanken über Vergangenes allemal.
Aber melancholische Gedanken hatte ich wie eh und je reichlich.
Sehr lange hatte ich nicht akzeptieren können, dass sich das Leben und die Welt definitiv verändern könnten. Als erwartete ich halb, dass früher oder später die Freitagabende wiederkehren würden, da ich mit meiner Mutter und meiner Schwester auf dem braunen Sofa im Wohnzimmer saß, ich in der gemütlichsten Ecke, mit einem Buch aus der Bibliothek und einem Apfel. Und wo war mein Vater, der rief, dass ich meiner Mutter beim Geschirrspülen helfen und nicht so faul auf dem Sofa lümmeln solle, na wird’s bald?
Unwillkürlich hatte ich nie aufgehört zu denken, dass ich irgendwann wieder auf diesem braunen Sofa sitzen würde, sicher und geborgen, bei meinen Eltern zu Hause. Als würde mein Kinderleben eines Tages wiederkehren, wenn ich nur zu erkennen gab, dass ich aus dem Wahn des Hier und Jetzt in das Früher zurückwolle. Zurück zum Anfang.
Vielleicht konnte man so nur denken, solange das Leben unbekümmert war und den gleichen Rhythmus und die gleiche Sicherheit behielt. Solange man nie etwas Schockierendes erlebte.
Zum damaligen Zeitpunkt dachte ich wirklich,
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