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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
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das Schicksal habe mir schon eine Menge unerwünschter Veränderungen aufgedrängt.
    Wie konnte ich auch ahnen, dass ich noch weit drastischer auf die Probe gestellt werden würde? Mochte das Hier und Jetzt auch Wahn sein – nach dem, was sich nun in meinem Leben abspielen sollte, sollten die Erinnerungen an meine Kindheit, ja sogar an viele Jahre danach, zum ersten Mal wirklich Vergangenheit für mich werden, fast so, als handelte es sich um die Geschichten einer anderen, einer Fremden, mit deren Gefühlen und Gedanken ich mich kaum noch identifizieren konnte.
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    Meine Mutter wollte ich nicht anrufen. Lieber joggte ich jeden Tag und schrieb anschließend, noch in meinen durchgeschwitzten, klebrigen Sportsachen, nichtssagende Briefe an Mitch.
    »Lieber Mitch, es ist kalt hier, aber die Sonne scheint. Dein Vater macht eine neue Fernsehserie, über eine Geiselnahme an einer Schule! Und du glaubst es nicht: Paul de Leeuw wird die Hauptrolle spielen. Tess hat, glaube ich, einen neuen Freund, denn sie chattet und simst den ganzen Tag, und mit uns redet sie kaum noch. Wie geht es dir?«
    Auch hatte ich angefangen, Pakete zu packen, mit Kool-Aid-Getränkepulver, getrocknetem Rindfleisch, Bifi-Würstchen, Süßigkeiten, feuchtem WC -Papier und haufenweise Socken – das alles brauchten sie, die Jungs in Afghanistan, wie ich gelesen hatte. Mitch war zwar noch im Boot Camp, aber man konnte ja nie wissen, wann alles plötzlich bereit zu sein hatte.
    Nachts träumte ich von Sockentürmen in überdimensionalen Einkaufswagen, die ich nicht von der Stelle bekam, weil mir die Schultern so weh taten und meine Füße zu schwer waren. Und jede Nacht rüttelte ich mich selbst aus Alpträumen wach, die ich nicht zu Ende zu träumen wagte.
    Abends vor dem Schlafengehen streichelte ich immer kurz Zewas Briefe, bevor ich sie dann wieder in das Schmuckkästchen zurücklegte. Ich hatte sie inzwischen kopiert und jemandem gebracht, der sie für mich entziffern konnte.
    64
     
    Iezebel war nicht einsam, wie ich eine Zeitlang befürchtet hatte. Sie hatte den Kontakt zu alten Bekannten wieder aufgefrischt, nahm Fahrstunden, machte einen Bildhauerkurs und räumte – was erstaunlich war, so kurz nach seinem Tod – unermüdlich Hermans Sachen auf. Sie gehe jeden Schrank, jede Schublade, jeden Karton, jede Mappe, jeden Ordner durch und schaffe Ordnung, erzählte sie mir. Den Schreibtisch habe sie schon »fertig« und alles, bis hin zum kleinsten Notizzettel, säuberlich archiviert. Die Briefe habe sie leider bisher nicht gefunden, teilte sie bedauernd mit. Sie habe auch schon jemanden gefunden, der Hermans Zimmer neu tapezieren werde. Das gehe demnächst los. Sie räume, fege und klopfe den Staub aus. Stillsitzen führe nur zu Tränen, sagte sie, und deshalb sitze sie nie still.
    Ein Bildersturm als Mittel gegen den Schmerz des Verlustes, dachte ich. Ich versuchte, keinen Anstoß daran zu nehmen, obwohl Iezebels Elan mich störte.
    Als sie fertig war, ging ich es mir ansehen.
    Jetzt, da es so aufgeräumt war, sah ich erst, wie klein und normal das Arbeitszimmer meines Vaters, das Heiligtum, eigentlich war. Obwohl noch alles genau so dastand wie früher, wirkte der Raum demontiert, entseelt. An den Wänden die vollen Bücherregale, in der Mitte die beiden Schreibtische. Auf dem einen stand eine elektrische Schreibmaschine, eine Commodore, auf dem anderen, dem von Gispen, dem »richtigen Schreibtisch«, stand ein altmodisch großer Computer mit einem noch älteren, schon ganz vergilbten Drucker. Die Magie, das Geheimnisvolle, das früher, als ich hier nie sein durfte, so große Erwartungen geweckt hatte, war verschwunden. Nur wenn ich die Augen schloss, fand ich die Welt wieder, die sich noch hinter dieser Ordnung verbarg. Etwas von dem Geruch von früher war noch da, seinem Geruch, einem Gemisch aus Eisen, Leder und Tabak.
    Vorsichtig drehte ich am Schlüssel der Schubladenfront vom Gispen. Dieser Schreibtisch meines Vaters war der liebste, heiligste Ort. An ihm hatte er gearbeitet, um ihn war er herumgesaust, in ihm hatte er seine Geheimisse versteckt.
    Ping!, machte die Feder des Schlosses, und der Stahlbolzen sprang heraus.
    Die Schubladen waren leer. Hier und da noch ein Restchen Staub und ein paar Papierfitzelchen. Ich erschrak. Behutsam schob ich sie wieder zu. Meine Mutter, die stolze Aufräumerin, sah mich mit feierlichem Blick an.
    »Ich habe ihn leergeräumt«, sagte sie, »weil ich ihn dir schenken möchte. Ich glaube, Papa hätte

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