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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
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sich rächen.«
    »Ach wo. Wenn er vernünftig ist, hält er sich von hier fern. Er hat den Prozess verloren und seine Lektion gelernt!«
    »Ich glaube, er hat wirklich keinen Cent mehr.«
    »War er denn nun wirklich mit diesem alten Nazi verwandt oder nicht?«
    »Keine Ahnung. Herman war schon davon überzeugt. Das sei gar nicht anders möglich, sagte er. Aber das war natürlich typisch Herman. Hinter jedem Zaun ein Antisemit.«
    Da war irgendetwas, aber ich konnte es nicht greifen, irgendeine Erinnerung, die sich partout nicht wachrufen lassen wollte.
    Ich war plötzlich todmüde. Was für eine merkwürdige Geschichte. Mein Vater und seine Geheimnisse – was sollte man glauben, was nicht?
    »Papa hatte ja eine Menge Geheimnisse vor uns«, sagte ich, »so vieles ist unklar, unbekannt. Auch was den Krieg betrifft.«
    »Aber so vieles ist doch wohl gerade klar, bekannt!«, wandte meine Mutter entrüstet ein. »Diese Sache war für Herman eine Privatangelegenheit. Eine persönliche Mission, die er zu einem guten Ende führen wollte. Aber alles andere? Als Historiker wusste Herman besser als jeder andere, wie unzuverlässig das Gedächtnis ist. Er erzählte lieber gar nichts, als etwas zu sagen, was nicht stimmte. Er hat sein Leben lang nach historischen Belegen für all das geforscht, was er selbst mitgemacht hatte. Sein ganzer Schrank ist voller Dokumente und Zeugnisse und Briefe, eine solche Menge, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll.«
    Meine Mutter hatte recht. Wenn man das mitgemacht hatte, was er mitgemacht hatte, war es wohl das Allerschlimmste, wenn einem nicht geglaubt wurde, wenn man belächelt und nicht ernst genommen wurde. Denn die Peiniger wollten natürlich die Spuren ihrer Verbrechen verwischen, verscharren, verbrennen.
    Ich sah plötzlich diese schrecklichen Briefe an das Amt für Wiedergutmachung vor mir, aus der Mappe, die ich heimlich mitgenommen hatte.
    Diese Briefe, in denen mein Vater die Nummer seines größten Leids und seiner größten Schande, die Nummer, die ihm auf den Arm tätowiert worden war, hatte angeben müssen, damit er für all das entschädigt würde, was die Nazis seiner Familie genommen hatten. Diese mit dem Mut der Verzweiflung geschriebenen Briefe zum Beweis, dass es wirklich geschehen war.
    Da erzählte ich meiner Mutter von Zewas Briefen, die ich am gleichen Tag in für mich lesbarer Übertragung zurückbekommen hatte. Zewa hatte sie, wie ich nun wusste, in Sütterlin geschrieben.
    67
     
    Hooghalen, 29. November 1942
    Liebe Fietje!
Ich hoffe, dass Du diesen Brief bei guter Gesundheit liest. Jeden Tag denke ich an Dich und Deine Scherze und Deine Plätzchen, mit denen Du uns in schwierigen Momenten immer auf andere Gedanken gebracht und aufgemuntert hast. Ich kann nicht sagen: Wärst Du doch hier!, denn damit würde ich Dir wenig Gutes wünschen. Aber Du fehlst mir so sehr, Du und unsere endlosen Gespräche.
    Die ersten Tage hier habe ich im Krankenhaus gelegen. Ich hatte eine Gehirnerschütterung und bin immer wieder ohnmächtig geworden, aber das hat sich jetzt zum Glück gegeben. Es ist ein wirklich gutes Krankenhaus. Der Arzt hier, Doktor Spanier, versteht etwas von seinem Fach! Über einen Monat sind wir jetzt hier, und obwohl die Umstände nicht so schlimm sind, wie wir aus Erzählungen gehört hatten – Dir kann ich es ja sagen, dass ich jetzt jede Sekunde bedaure, die ich in Rotterdam geklagt habe, weil ich solches Heimweh nach meiner Familie in Deutschland und Rumänien hatte, und jeden Tag, den ich nicht mit sonnigem Gemüt gelebt habe. Könnte ich mein Leben doch noch einmal leben…
    Wir haben hier in dieser fremden »Stadt« inzwischen viele Menschen aus Rotterdam wiedergetroffen, die wir lange nicht mehr gesehen hatten. Doch obwohl es herrlich ist, auf einmal so viele Bekannte um sich zu haben, ist meine größte Sorge natürlich mein Herman. Ich hoffe und bete jeden Tag inständig, dass er in Sicherheit sein möge. Oft liege ich nachts wach, weil ich mich so schrecklich hilflos fühle. Natürlich haben wir uns bei anderen hier erkundigt, aber niemand konnte uns etwas sagen. Ich kann nur hoffen, dass für ihn gesorgt ist, dass Ihr Euch um ihn kümmert. Anfangs war ich unheimlich froh, dass wir ihn zurückgelassen haben, aber jetzt, nach fast zwei Monaten ohne irgendeine Nachricht, habe ich nur noch große Angst. Was, wenn er keinen von Euch erreichen konnte? Was, wenn er [Hier hatte Herr Zaat, der den Brief übertragen hatte, ein Fragezeichen

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