Der Sohn (German Edition)
etwas wie eine Abgesandte seiner Mutter, nach diesem Brief wissen wir noch besser, warum. Ein bisschen schrullig war sie auch, diese Fietje. Warum sie Zewas Briefe nicht Herman vermacht hat, sondern sie an dieses Archiv gab, ist mir ein Rätsel. Sie ist Anfang der siebziger Jahre gestorben, glaube ich.«
Meine Mutter wusste viel mehr als ich.
Fietje sei zwar mit einem Christen verheiratet gewesen, aber trotzdem Anfang März dreiundvierzig mit Mann und Kindern festgenommen und nach Westerbork gebracht worden. Nur wenige Monate nach Hermans Eltern. Die Niederlande seien schon sehr früh ziemlich eifrig dabei gewesen, auch Juden aus Mischehen samt Partnern und Kindern zu internieren. So sehr sogar, dass Berlin eingegriffen und Familien, die den Behörden zufolge »voreilig festgenommen« worden seien, aus Westerbork nach Hause entlassen habe. Mancher sei dadurch dem Tod entgangen. Für Fietje und ihre Familie sei es aber zu spät gewesen, die seien praktisch sofort deportiert worden.
Fietje habe überlebt, aber beide Kinder in Bergen-Belsen verloren. Ihren Mann habe sie zwar nach dem Krieg wiedergesehen, sich aber nach einem Jahr von ihm scheiden lassen. In schon reiferem Alter habe sie dann einen Schweizer geheiratet, mit dem sie in Bern gelebt habe.
Ich fragte: »Und Herman? Wenn er nicht gleich mit nach Westerbork kam, wo war er denn dann? Und wie wurde er festgenommen? Papa hat doch immer gesagt, dass seine Eltern und er sich an seinem fünfzehnten Geburtstag zum letzten Mal gesehen hätten. Und das war zwei Jahre später! Im Oktober 1942 war er erst dreizehn!«
»In der Beziehung hat sich Herman mir gegenüber immer sehr vage ausgedrückt«, sagte Iezebel. »Er ist jedenfalls erst nach Westerbork gekommen, als seine Eltern schon nach Auschwitz deportiert worden waren. In Westerbork hat er sie nicht mehr angetroffen. Er war bis Mitte 1944 dort, das weiß ich mit Sicherheit. Dann wurde er auch nach Auschwitz deportiert. Er durfte manchmal in dem Kabarett mitsingen, das sie in Westerbork hatten, das weißt du ja. Oder er durfte bei der Beleuchtung einer der Aufführungen helfen. Cor hat gelegentlich davon erzählt, Onkel Cor, weißt du, der eigentlich gar kein richtiger Onkel war, sondern ein guter Bekannter.
Also dein Vater ist tatsächlich fünfzehn geworden, als er in Auschwitz war, im Sommer vierundvierzig. Und ich weiß auch, dass er genau an seinem Geburtstag seine Mutter zum letzten Mal gesehen hat – in einer Reihe von Frauen, die todkrank auf ihren Abtransport warteten. Sie haben sich zugewinkt, das konnte er nie ohne Tränen in den Augen erzählen. Es war ein riesiger Zufall. Unvorstellbar. Und seinen Vater hat er auch noch gesehen. Er erzählte immer, das sei am gleichen Tag gewesen, aber das kann eigentlich fast nicht stimmen. Herman musste in der Nähe der Rampe, wo die Züge ankamen, irgendwelche Karren schieben, und da hat er natürlich viele Menschen vorüberkommen sehen, auch seinen Vater.«
Eine Frage brannte mir noch auf der Zunge: »Aber wo war Herman denn, als seine Eltern festgenommen wurden?«
Das konnte mir meine Mutter nicht sagen. Das sei und bleibe ein Rätsel, auf das wir vielleicht nie eine Antwort bekommen würden.
Wo war mein Vater mit dreizehn gewesen, ganz allein? Wo hatte er gegessen, wo hatte er geschlafen?
69
Dieter von Felsenrath war erleichtert, dass zwei der drei Briefe wieder da waren.
Ich fasste deren Inhalt für ihn zusammen.
»Ah«, sagte von Felsenrath, »dann fehlt also dieser andere, dieser eigenartige Brief.«
»Eigenartig?«, fragte ich. »War er denn so anders als die anderen?«
»Ich erinnere mich nicht mehr im Einzelnen, aber irgendetwas war damit. Ich hoffe, Sie finden auch diesen dritten Brief noch«, sagte er. Zum Glück war er so klug, mich nicht um die Originale zu bitten, wie in unserem früheren Gespräch.
Ich dachte an Fietje Leeder, die den Krieg überlebt hatte. Sie wäre jetzt hundertfünf gewesen, genau wie Zewa. Aber einerlei, ob sie den Krieg überlebt hatte oder nicht, sie war jetzt nicht mehr da, um mir die Dinge zu erzählen, die ich so gerne wissen wollte.
70
In der gleichen Woche eröffnete Jacob mir eines Abends beim Nachhausekommen, dass er von der Leitung des Konzerns, dem er mit seiner Firma angeschlossen war, das Angebot erhalten habe, ab dem Sommer den Zweig in Los Angeles zu übernehmen.
»Wir gehen nach Kalifornien!«, rief Jacob, und das Gesicht, das er dazu machte, wild und aufgekratzt, werde ich nicht so
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