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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
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schnell vergessen. Für einen Moment sah ich wieder den Jacob vor mir, an den ich mich schon fast nicht mehr erinnern konnte, den jungen Jacob, für den die Welt genauso neu und unerschlossen gewesen war wie für mich. In Kalifornien würden wir jedenfalls mal wieder am gleichen Ausgangspunkt für den Start in ein anderes Leben stehen, dachte ich noch. Im Licht all dessen, was danach passieren sollte, erscheint es mir jetzt unvorstellbar, dass dieser Gedanke damals ganz und gar unbeschwert war. Unser Umzug hatte vor allem etwas Abenteuerliches, ja Unverbindliches, obwohl wir im Hinterkopf natürlich schon den Wunsch hatten, Mitch zu behausen und zu umsorgen, wenn er mal frei hatte, denn wir würden ja dann in seiner Nähe sein.
    Wenn ich jetzt auf unsere damalige Planung zurückblicke, verblüfft mich die gnadenlose Ironie des Timings. Mitch war inzwischen seit zehn Wochen im Boot Camp. Wir hatten uns schon während der drei Wochen in San Diego einige Tage lang Häuser angeschaut. Zu Beginn der Sommerferien wollten wir übersiedeln. Tess war wütend und untröstlich. Für sie bedeutete dieser Umzug nicht mehr und nicht weniger als eine Verbannung, den Verlust der ihr vertrauten Welt, die erste fundamentale Abschiedserfahrung – oder eigentlich die zweite, denn sie war ja schon sieben gewesen, als wir damals von den USA in die Niederlande zurückgingen.
    Ich kannte dieses Gefühl nur zu gut.
    »Mama, du zerstörst mein Leben.«
    Nichts wusste ich.
    Und nicht einmal das wusste ich.
    71
     
    Der Startschuss für alles, was sich verändern sollte, wurde an dem Tag gegeben, als die Pistole meines Vaters losging.
    Wir haben danach in der Familie noch oft darüber diskutiert, aber keiner wird mich je davon abbringen können, dass der Schuss gleichsam das Startsignal für die dann folgenden schockierenden Ereignisse war. Obwohl er zunächst nur ein lächerlich kleines Loch in der Treppe meines Elternhauses verursachte.
    Meine Mutter rief an – damit begann es –, um mitzuteilen, dass ihr Nachbar Chris endlich Zeit habe, mir den Schreibtisch meines Vaters zu bringen. Ich fuhr sofort zu ihr, denn ich wollte dabei sein, wenn der Schreibtisch aus dem Zimmer meines Vaters gehoben wurde – habe ich je behauptet, ich sei nicht sentimental?
    Mit einem Freund zusammen schleppte Chris den bleischweren Schreibtisch auf den Flur.
    »Die Schubladen müssen raus«, sagte er entschieden.
    Er zog sie, wegen ihrer vertrackten Aufhängung nicht ohne Mühe, nacheinander heraus und stellte sie auf dem Boden ab. Ja, das mache doch schon eine Menge aus, sagte er zufrieden. Meine Mutter und ich schauten schweigend zu. Das Ganze hatte etwas vom Herrichten eines Toten vor dem feierlichen Abtransport.
    Die ersten drei Stufen die Treppe hinunter gingen wie geschmiert, aber in der Biegung wurde es so eng, dass die Männer den Schreibtisch ein wenig kippen mussten. Hilflos ragten seine stolzen Beine in die Luft, und uns wurde der Blick auf die intime Stahlkonstruktion unter der Tischplatte eröffnet – als schielten wir einem Mädchen unter den Rock.
    Ich sah nicht alles, meine Mutter schon.
    »Oooooh!«, rief sie, und fast zeitgleich gab es einen Knall, und ein ohrenbetäubender Schuss ging los.
    Das passierte so schnell, dass wir gar nicht so recht erfassten, was sich da abgespielt hatte.
    Ein winziges Rauchfähnchen kringelte sich von der untersten Treppenstufe in unsere Nasen hinauf. Wie kann der Geruch von heißem Blei eine solche Kälte verbreiten? Wir waren alle totenstill vor Schreck – die Männer taumelten mit der schweren Last in ihren Händen, wussten sie aber Gott sei Dank festzuhalten.
    »Scheiße, was war denn das?«, schrie Chris dann.
    Unten auf dem Steinboden am Fuße der Treppe lag eine Pistole. Drum herum ein vergilbtes Stückchen Klebeband. Der Rest davon hing unter der Schreibtischplatte.
    »Ach du meine Güte«, sagte meine Mutter.
    »Mannomann«, sagte Chris, schwitzend, mit vor Anstrengung zitternden Armen. Auch sein Freund schwitzte übermäßig.
    Wir hatten alle nur noch Augen für die Waffe, aber die Männer waren mit dem Schreibtisch gerade erst auf der Hälfte der Treppe angelangt. Vorsichtig wuchteten sie ihn das letzte Stück hinunter. Ich stürmte sofort an ihnen vorbei und fischte die Pistole als Erste vom Boden. An der Haustür lag eine kupferne Patronenhülse, die noch ganz heiß war.
    »Vorsicht, Saar!«, rief meine Mutter.
    Es war eine altmodische, schwere Pistole. Sie lag gut in der Hand. Meine Mutter und

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