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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
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zu bleiben. Aber mir wird sofort klar, dass bei mir wohl noch etwas vom Vortag hängengeblieben ist, was meine Gedanken in diesem Alptraum verwirrt. Denn Tess ist genauso in der Gewalt dieser anonymen Männer wie wir, Gestalten, die ihr Gesicht verstecken. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ein Gewissen haben, ist sehr gering.
    Das ist kein Traum.

74
     
    Es wird ganz still im Zimmer. Einen Moment lang ist nur unser Atem zu hören, und das Knarren unseres Holzfußbodens unter Gummisohlen und nackten Füßen. Ich bin mir dessen bewusst, dass wir uns in Lebensgefahr befinden und dass auch Jacob das klar ist – deshalb steht er so stumm und atemlos da. Jacob, dem ich böse bin, aber auch wieder nicht so sehr. Er müsste abnehmen. Gott, das ist doch jetzt ganz egal! Lebensgefahr! Zwei Fremde in unserem Zimmer!
    »Mitkommen!«, tönt es unter einer der Sturmhauben hervor.
    Ich springe aus dem Bett. Ein langes T-Shirt habe ich an, mehr nicht. Gott sei Dank einen Slip. Die Nacktheit.
    Ich flüstere: »Was wollen Sie?«
    Jacob schreit plötzlich, die Hände beschwörend vor der Brust erhoben, wie ein Dirigent: »Lasst sie gehen! Lasst sie in Ruhe!«
    Erst jetzt, da sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, sehe ich, dass Tess’ Hände gefesselt sind. Einer der Eindringlinge bedroht Jacob mit einer Pistole. Das leise Klicken verrät mir, dass er es ernst meint, dass er schießen könnte. Tess macht Karate, denke ich hoffnungsvoll. Aber was bringt ihr das jetzt?
    »Lasst sie gehen!«, knurre ich meinerseits.
    Die Wut, die ich empfinde, als ich Tess’ gefesselte Hände sehe, ist so überwältigend, dass ich Blut schmecke und im wahrsten Sinne des Wortes das Gefühl habe, gleich in die Luft zu gehen. Aber mein Körper war noch nie so schwer. Ich kann mich nicht bewegen.
    Der linke Mann bewegt sich schnell und nervös. Er hat einen starken Akzent.
    »Du!«, sagt er zu Jacob. »Mitkommen. Safe.«
    Der andere raunt ihm etwas zu. Plötzlich geht das Licht an.
    Schmerzlicher Realismus erfasst den Raum: Da stehen sie in ihrer ganzen abstoßenden Leibhaftigkeit. Ich muss an Tiere denken, stinkende Raubtiere, die in die Intimität unseres Schlafzimmers eingedrungen sind. Bestialische Gefahr, Tod.
    Zwei Männer, der eine groß und stämmig, der andere, der die Pistole in der Hand hält, schlank und athletisch. Beide tragen diese fiesen, engen schwarzen Sturmhauben und schwarze Jeans. Der eine hat Turnschuhe an, der andere eine Art Wanderstiefel. Unter den Sturmhauben scheinen sie sich Nylonstrümpfe übers Gesicht gezogen zu haben, nicht einmal ihre Augen sind zu sehen. Handschuhe.
    Und dann wir. Mein Mann. Tess, mein Kind. Meine Tochter, verletzlicher denn je, Unbekannten ausgeliefert.
    »Gebt sie frei!«, brüllt Jacob und will sich auf die Männer zubewegen.
    Die Überheblichkeit des Produzenten lässt ihn auch jetzt nicht im Stich. Aber sofort zielt der Mann mit der Pistole und schießt. Er trifft Jacob an der Schulter. Jacob sackt lautlos vor dem Bett in sich zusammen. Ein vollkommen untheatralischer Moment, der keinerlei Ähnlichkeit mit den Millionen von Schießereien hat, die ich aus Filmen kenne. Ein einziger Schuss, und augenblicklich ist die gesamte Muskelkraft dahin, die ein Mensch zum Stehen braucht. Ein einziger Schuss, und ein Mensch ist von einer Sekunde auf die andere nichts mehr als schwere, unbewegliche Masse.
    Jacob wird vor meinen Augen zu Masse. Es ist das zweite Mal in wenigen Wochen, dass ich den ernüchternden Knall einer Pistole aus nächster Nähe höre. Der Geruch von heißem Blei, beim vorigen Mal eher lächerlich, kommt mir schon fast vertraut vor – nur ist jetzt das Bewusstsein da, dass es der Geruch des Todes ist.
    Und der Schock, den der Schuss auslöst, ist so gewaltig, dass ich das Empfinden habe, aus meinem Körper herauszutreten und von außen auf uns zu blicken.
    »Neiiiin!«, höre ich mich jammern. »Neiiiin!«
    Und ich höre Tess, die immer so still ist, kreischen: »Papa!!!!«
    Tess versucht sich loszureißen, ich denke verzweifelt an ihr Karatetraining, aber der Mann, der sie festhält, zieht sie unsanft noch dichter an sich, und der andere schießt gleich noch einmal, aufs Geratewohl, in meine Richtung jetzt. Der Nachttisch neben meinem Bett fällt um, ich höre ein eigenartiges Rieseln: Putz und Mauerstückchen regnen herab. Die Lampe und die Bücher, die auf dem Nachttisch gestanden haben, rutschen hinunter und schlagen auf dem Boden auf. Die Kugel hat ein Bein des Nachttischs

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