Der Sohn (German Edition)
ich sahen uns an.
Dann sagte sie etwas, was mir zunächst unbegreiflich war. Ich dachte, ich hätte mich verhört, und bat sie, noch einmal zu wiederholen, was sie gesagt hatte.
»Wagner«, murmelte sie. »Natürlich. Dieser verrückte Herman. Das ist Wagner. Davon war in Zewas Briefen die Rede. Wie konnte ich das vergessen! Und was für ein Glück, dass nichts passiert ist!«
»Wagner?«
»Wagner war in der Familie der Codename für die Pistole, die Federmann aus Deutschland mitgebracht hatte!«
Herman habe ihr erzählt, dass er sie nach dem Krieg wiedergefunden habe. Aber sie habe nichts davon gewusst, dass er sie behalten habe. »Er hat immer so getan, als hätte er sie längst weggetan, und ich habe nicht danach gefragt. Es ist doch verboten, Waffen im Haus zu haben.«
»Wagner? Das ist Wagner?«
Danach hatte mein Vater also auf seinem Sterbebett gerufen. Wagner war eine Pistole.
»Großer Gott«, sagte ich.
In der untersten Treppenstufe war ein kleines Loch, so hübsch rund, dass man meinen konnte, es sei kunstvoll hineingearbeitet worden. Bei der Küche, unter dem Glasschrank, war noch eines. Die Kugel war quer durchs Haus geflogen. Ich fand sie am Abfalleimer. Eine schöne, moderne Kugel, fast einen Zentimeter dick. Ein Wunder, dass nichts passiert war.
Ich versprach meiner Mutter feierlich, dass ich die Pistole bei der Polizei abgeben würde.
»Schwör es, Saar, sonst tue ich es selbst«, sagte sie ernst.
»Auch Halbjuden schwören nicht«, entgegnete ich. »Aber keine Angst, ich bringe sie für dich weg. Ich möchte sie mir nur noch ein paar Tage anschauen, okay?«
In Wirklichkeit dachte ich nicht im Entferntesten daran, die Pistole herzugeben. Nachdem ich sie Jacob gezeigt hatte, klebte ich meine neue Freundin fein säuberlich mit frischem, durchsichtigem Klebeband wieder an ihren alten Platz, unter den Schreibtisch, der inzwischen in meinem Arbeitszimmer stand. Ob es ein guter Platz war, weiß ich bis heute nicht.
Ich glaube, ich betrachtete das als eine Geste. Einen Ehrerweis. Eine Ode an meinen Vater mit seiner ewigen Wachsamkeit vor Gefahr. Als ein Amulett, das uns schützen würde.
Vorzeichen erkennt man ja meistens erst im Nachhinein als solche – aber dann sind sie keine Vorzeichen mehr.
72
Am selben Abend aßen wir Hühnchen, und im ganzen Haus duftete es nach Thymian und Knoblauch. Aromen, die ich immer gemocht habe, die mir aber seither Unbehagen bereiten.
Auch Jacob war nicht dafür gewesen, die Pistole bei der Polizei abzugeben. Es war eine historische Waffe, wie wir beide fanden. Der Gedanke, dass sie schon seit dem Krieg im Besitz der Familie gewesen war, verursachte uns eine Gänsehaut.
Jacob recherchierte im Internet und wusste daraufhin zu erzählen, dass es sich um eine 9mm Parabellum aus dem Jahre 1918 handelte, eine Luger, halbautomatisch, im Ersten Weltkrieg gern von den Deutschen benutzt.
Ich konnte mich gar nicht beruhigen, dass dies wahrscheinlich die Pistole war, die mein Vater Wagner genannt hatte, und dass es womöglich diese Pistole war, wonach mein Vater auf seinem Sterbebett gerufen hatte. Hatte mein Vater je damit schießen wollen? Welche Geschichte hatte diese Pistole? Meine Mutter konnte mir bis auf den Namen nichts weiter darüber erzählen.
»Du bringst sie aber schon weg, ja?«, hatte sie nochmals beunruhigt nachgefragt.
»Klar«, hatte ich gelogen. »Mach ich noch in dieser Woche.«
Was geschah sonst noch an jenem Abend? Jacob hatte von unserem amerikanischen Makler ein Haus im Toskanastil in Brentwood angeboten bekommen und war davon sehr angetan. Ich fand es ziemlich affig und klotzig – genau wie unser Haus in Overveen. Wir gerieten uns ein bisschen in die Haare. Ich wollte etwas Modernes, Helles, Geräumiges. Jacob warf mir vor, ich kapierte nicht, wie man in LA wohne. Dramatik, Theater, das sei LA ! Ich wolle die niederländische Vorsicht und Ängstlichkeit auf Kalifornien übertragen, sagte er, und das werde mir, sofern es nach ihm gehe, nicht gelingen. Wieso leistete ich Widerstand gegen alles, was er vorschlage?
Ich hatte auch meine Trümpfe.
»Du hast unseren Sohn in diese Situation gebracht, du willst unbedingt in Hollywood glänzen, deswegen sind wir gezwungen, alles, was wir hier lieben, zurückzulassen. Da kannst du mich wenigstens das Haus aussuchen lassen!«, rief ich.
Ich meinte das gar nicht so ernst. Das heißt, ich meinte schon, dass er mich das Haus aussuchen lassen sollte, aber ich nahm es ihm nicht übel, dass wir in
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