Der Sohn (German Edition)
die USA ziehen würden, um, sooft wir konnten, in Mitchs Nähe zu sein.
73
Als ich zu Bett ging, fiel mir auf, wie hell es draußen war. Es war eine seltsam wache Nacht, mit einem Vollmond, der sein Licht durch unsere leichten Leinenvorhänge zu pusten schien – eine typische Nacht für schöne Träume. Die Wahrnehmung von diesem ungewöhnlichen Licht um mich herum vermittelte mir ein Gefühl der Schutzlosigkeit und machte mich zugleich melancholisch, daran erinnere ich mich noch. Und daran, dass ich kurz an die Gardinen dachte, die ich noch immer nicht von der Wäscherei abgeholt hatte und die jetzt gute Dienste geleistet hätten. Aber ich war sehr müde, und Jacob schlief schon, den Koffer gepackt neben seinem Bett, denn er musste früh am nächsten Morgen zu einer Besprechung mit einem deutschen Fernsehsender nach Berlin. Ich las noch ein Kapitel in Disgrace von Coetzee, bevor ich die Augen schloss. Mein letzter Gedanke galt Wagner.
Ich schlief nicht gleich ein, weil der helle Mondschein mir durch die Lider hindurch in die Augen strahlte und im Hintergrund meines Halbschlafs eine weiße Projektionsfläche spannte. Ich träumte schließlich von einer weißen Maus, wenn ich mich recht entsinne, die ich festhalten wollte (wie kam sie in meine Hand?), die mich aber biss und sich mir zu entwinden versuchte. Panisch rang ich mit der Maus, während ich darauf wartete, dass Tess einen Karton oder irgendein anderes Behältnis holen würde, damit ich von diesem Teufel in meiner Hand erlöst würde.
»Mam«, sagte sie, »Mam.«
Als ich die Augen öffne, ist es dunkel im Zimmer, viel dunkler als beim Schlafengehen. Der Mond ist offenbar schon wieder weitergewandert. Es ist so dunkel, dass ich nicht gleich sehe, was los ist, ich höre nur Tess’ Stimme.
»Mam…«
Ich denke zunächst, ich hätte verschlafen und Tess wolle mich wecken. Trotzdem erschrecke ich heftig über ihr plötzliches Auftauchen im Dunkeln. Mühsam mache ich ihre Umrisse aus, und da bleibt mir fast das Herz stehen – ich sehe es sofort.
Jacob auch.
Keuchend fahren wir hoch, gleichzeitig, Jacob und ich.
Tess ist nicht allein. Da sind andere, fremde Leiber in unserem Schlafzimmer.
»He, was soll das?«, ruft Jacob.
Es klingt seltsam schrill, wie von einem Vogel.
»Du! Raus aus Bett!«, befiehlt ihm daraufhin eine unbekannte, gedämpfte Stimme. Mir befiehlt sie: »Du bleiben!«
Jacob steht schon, fällt beinahe, so schnell ist er aus dem Bett geschossen mit seinem schweren Leib, sterbensbang, außer sich. Es hat ihm die Stimme verschlagen, ich höre ein Röcheln in seiner Kehle. Und ich sehe seine Angst – das erschreckt mich in diesen ersten Sekunden noch am meisten: das Zittern, das durch seine Schultern fährt, und dieses tierische Röcheln.
»Nicht bewegen! Stehen bleiben!«
Als ich diese zweite fremde Stimme zum ersten Mal höre, tief, herrisch, verschiebt sich alles. Das Bettzeug klebt an meinem Körper. So sicher es sich im Bett sonst anfühlt, so unsicher ist dieser Ort jetzt urplötzlich, die Matratze und die Bettdecke mit all ihrer Weichheit und Wärme unerträglich, obszön.
Tess steht dort, und wir sind hier, ganz nah, und doch so weit weg. Machtlos. Ich muss an dieses seltsame, traurige Foto von Diane Arbus denken, mit dem Riesen und seinen normal großen, neben ihm aber winzig wirkenden Eltern. Sie stehen ein wenig ziellos in ihrem Wohnzimmer, das konventionell und nach ihren Maßen eingerichtet ist – aber eben nicht nach denen ihres überdimensionalen Sohnes mit Füßen im Format von Stuhlflächen.
Solche Eltern sind wir jetzt, hilflos, nicht groß genug.
Ich höre einen Schrei, und ich glaube, ich bin es, die schreit.
Da steht meine Tess, für mich unerreichbar. Zwischen zwei Gestalten mit Sturmhauben über dem Kopf, am Fußende unseres Bettes, ein Kind, und doch auch eine Frau mit ihrer fast erwachsenen Figur, die Haare zerzaust, verschmierte Wimperntusche unter den Augen (sie muss geweint haben, Gottogott, mein Kind), in ihrem Flanellpyjama, die Hände auf dem Rücken. Die Vorstellung, dass diese beiden Gestalten auch schon dort standen, als ich noch schlief! Tess’ Angst, Tess’ Verzweiflung beim Anblick ihrer schlafenden Eltern. Das gibt ihnen einen Vorsprung, den ich nie mehr einhole.
Ich gestehe, dass mir eine idiotische Sekunde lang durch den Kopf schießt, dies könnte ein rebellischer Akt von Tess sein, die nicht in die USA will und uns jetzt mit zwei Mitstreitern dazu bewegen will, in den Niederlanden
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