Der Sohn (German Edition)
meinem Blick verändert sich der Jacobs. Ich will auch, dass er es weiß. Endlich. Er wird aschfahl – bei allem, was sich schon abspielt, kann er also immer noch erschrecken, oder besser gesagt: wieder erschrecken, und das macht mich fast glücklich.
Jacob ist am Boden zerstört.
»Mein Gott, Saar, ich könnte mich ohrfeigen«, flüstert er. »Dass ich das nicht längst begriffen habe! Arme Liebste, kannst du mir noch einmal verzeihen? Garantiert steckt dieser Prolet auch hinter dem Überfall auf uns, daran besteht für mich gar kein Zweifel. Den schlag ich tot! Dieses Monster muss dran glauben!«
»Sch, nicht doch«, sage ich, erleichtert, ja befreit. »Komm du erst mal wieder auf die Beine. Wenn du ihn richtig totschlagen willst, musst du erst mal wieder fit sein.«
Als ich vom NIOD und meinem Gespräch mit Geert van Drongen erzähle, bleibt Jacob erst eine Weile stumm. Dann bittet er um den neuen Laptop, den ich für ihn besorgt habe.
»Weiß die Polizei von Raaijmakers?«, fragt er.
Ich schüttele den Kopf. Ich erzähle ihm von meiner Angst um Tess.
»Noch nicht«, sage ich.
»Gut«, sagt er.
110
Aus dem Krankenhaus zurück, höre ich von meiner Mutter, dass Tess den Tag vorwiegend im Bett verbracht hat. Am Vormittag sei Gerard Koornstra noch einmal da gewesen, um sie zu befragen, aber sie glaube nicht, dass Tess etwas Neues gesagt habe. Sie habe an ihrem Computer gehockt und ansonsten an die Decke gestarrt und geschwiegen. Essen wolle sie immer noch nichts. Hin und wieder eine Tasse Tee, das sei alles.
Ich setze mich zu ihr. »Kommst du mit, Vögelchen? Dann mache ich dir Pfannkuchen, oder hast du Appetit auf Hühnersuppe? Komm mal zu mir auf den Schoß.«
Aber dort hockt sie, als wäre ich ein unbequemer Stuhl.
»Was kann ich für dich tun, meine liebe Tess? Möchtest du vielleicht wieder in die Schule?«
Sie nickt.
»Morgen?«, fragt sie.
Tess ist ein erstaunliches Geschöpf.
»Wie du willst. Wenn du das möchtest, natürlich! Nächste Woche verpasst du ja auch schon eine Menge – du weißt doch.«
»Ja. Ich habe Angst.«
»Wovor?«
»Dass ich heulen muss.«
»Natürlich musst du heulen. Bei so einer Graduation heulen alle. Es wird empfohlen, Laken mitzubringen, um der Tränen Herr zu werden!«
Ein winziges Lachen.
Ich habe genauso viel Angst wie Tess.
111
Ich will heute kein Schlafmittel. In den vergangenen Tagen habe ich zu viel davon geschluckt. Noch ist es mir nicht spät genug, vor Mitternacht. Leise, um meine Mutter nicht zu wecken, gehe ich nach unten. Tess schläft oben unter dem Dach, die kann mich nicht hören. Ich blättere noch einmal den Ordner durch. Starre nochmals auf die Fotos. Dass sie unverändert sind, auch nachts, hat etwas Beruhigendes. Und die Eindimensionalität nimmt Raaijmakers etwas von seiner Widerlichkeit. Jetzt erst fällt mir auf, dass der Maler, David Vandijck, ein T-Shirt mit einem Namenszug trägt. »Sport- und Karatecenter Nord«. Das muss das Fitnesscenter sein, von dem der Enkel der Nachbarin gesprochen hat.
Ich notiere mir die Adresse von Raaijmakers’ Firma aus der Korrespondenz meines Vaters, die mit großer Wahrscheinlichkeit auch seine Privatadresse sein könnte. Ob er noch dort wohnt? Oder hat meine Mutter recht, ist er so pleite, dass er auch sein Haus verloren hat? Ich surfe im Online-Telefonbuch nach seinem Namen. Ja, selbe Adresse. Es ist gar nicht weit vom Haus meiner Mutter entfernt. Jetzt bin ich hellwach.
Wenn ich früher ausging, zog ich auch manchmal um diese Zeit los. Ich erinnere mich noch gut, wie geräuschlos das vor sich gehen musste – mein Vater hörte buchstäblich jedes kleinste Knarren und war dann im Nu unten. Wutschnaubend. Für ihn war es undenkbar, dass man mitten in der Nacht aus dem Haus ging, um sich anderswo zu vergnügen. Das grenzte für ihn so ungefähr an Prostitution. Und für mich gab es nichts Demütigenderes und Deprimierenderes, als nachts um halb eins in Kriegsbemalung und den spannendsten Klamotten, voller Adrenalin und zu allen Untugenden bereit, von meinem Vater zum Kleinkind gestutzt zu werden, das an den Ohren die Treppe hinaufgezogen und in sein Zimmer verbannt wurde. Dort konnte ich dann auf den nächsten Ausbruchsversuch sinnen. Aber vernünftiger war es, sich abzuschminken, den kuschligsten Pyjama anzuziehen und zu hoffen, dass bald der tröstende Schlaf kommen würde. Die Chancen, in derselben Nacht doch noch ungehört verschwinden zu können, waren ohnehin gleich null. Er war
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