Der Sokrates-Club
haben, darf man sie nicht wie bloße Sachen behandeln. Die moderne Philosophie hat jedoch meist gerade dafür argumentiert. So meinte Immanuel Kant, dass es keine Pflichten gegenüber Tieren gebe, sondern allenfalls in Ansehung von Tieren. Tiere zählen demnach höchstens indirekt, zum Beispiel wenn Grausamkeit gegenüber Tieren Grausamkeit gegenüber Menschen befördert.
Ethische Theorien, die die Grenze zwischen empfindungsfähigen und nicht empfindungsfähigen Entitäten ziehen, fassen wir unter dem Oberbegriff des Sentientismus zusammen. Wenn Tiere oder wenigstens einige Tiere empfindungsfähig sind und wenn der Sentientismus recht hat, dann gibt es ein spezifisches moralisches Problem im Umgang mit Tieren oder jedenfalls diesen Tieren.
Damit ist, ganz unabhängig von der jeweiligen ethischen, allerdings immer sentientistischen Theorie, die Bestimmung der Formen und des Inhalts tierlicher Empfindungsfähigkeit Teil der Problemlage. Woher wissen wir, dass Tiere empfindungsfähig sind, wie können wir bestimmen, in welchem Ausmaß diese Empfindungen haben, etwa Schmerz oder Trauer, Lust und Leid empfinden? Welche Zusammenhänge bestehen zwischen manifestem Verhalten und mentalen Vorgängen? Verfolgen Tiere Absichten? Haben Tiere ein Zeitbewusstsein? Können Tiere Angst vor dem eigenen Tod haben? All diese Fragen sind zunächst empirischer Natur, auch wenn sie im Hinblick auf die ethische Theoriebildung gestellt werden.
Empirische Fragen dieser Art scheinen nicht zur Philosophie, sondern zu den Biowissenschaften zu gehören. Tatsächlich gab es jedoch über viele Jahrzehnte eine Art déformation professionelle, eine berufsspezifisch verformte Sicht, die Fragestellungen dieser Art aus dem Kanon moderner biowissenschaftlicher Forschung lange herausgehalten hat. Seit einiger Zeit beginnt sich diese Situation zu ändern, und die Divergenz privater Einstellungen von Biowissenschaftlern gegenüber Tieren, etwa ihren eigenen Haustieren, und der wissenschaftlichen Ausklammerung dieser Einstellungen scheint zurückzugehen. Eine Tierpsychologie hat sich jedenfalls bis heute nicht etablieren können, sodass die Interpretation zugänglichen empirischen Datenmaterials für die Zwecke der Tierethik ein eher schlechter Ersatz sein muss.
Die Überzeugung, dass jedenfalls höhere Säugetiere gelegentlich Gefühle wie Schmerz, Angst oder Freude haben, drängt sich jedem auf, der das Verhalten dieser Tiere sorgfältiger beobachtet. Sollte der Besitzer eines Hundes etwa davon überzeugt sein, dass dieser Hund Gefühle der genannten Art nicht hat, so müsste man bei dem betreffenden Hundehalter eine gravierende geistige Störung vermuten. Kinderpsychologen werten es zum Beispiel schon als Warnsignal für eine möglicherweise vorliegende Fehlentwicklung, wenn Kinder eines bestimmten Alters nicht Interesse am Umgang mit Tieren haben. Wer ernsthaft glaubt, selbst höhere Säugetiere seien bewegliche Maschinen, ist offensichtlich in seiner Umweltwahrnehmung ähnlich gestört wie jemand, der menschlichen Babys, nur weil sie noch nicht sprechen können, ihre Empfindungsfähigkeit abspricht.
In einer naturalistischen Betrachtungsweise drängt sich hier ein Zusammenhang auf. Unsere Fähigkeit, auch nonverbales Verhalten in der Sprache mentaler Prädikate zu interpretieren, war über die Jahrtausende der Menschheitsgeschichte Voraussetzung für die Weitergabe genetischer Merkmale. Menschen, in der vaterlosen Gesellschaft zumindest Mütter, mussten in der Lage sein, sich in den Gefühlszustand eines Kleinkindes hineinzuversetzen, seine Schmerz- und Angstzustände zu erkennen, sein Wohlbefinden zu fördern etc., lange bevor sich das Kind sprachlich entsprechend artikulieren konnte.
Diese Fähigkeit mag einer der Gründe dafür sein, dass Menschen aller Zeiten und aller Kulturen eine natürliche mentale Interpretation des Verhaltens von Tieren, die uns genetisch nahestehen, vornehmen. Es bereitet keinerlei Probleme, bestimmte Verhaltenssymptome als Ausdruck von Freude und Lust oder Schmerz und Leid, Müdigkeit, Aufgeregtheit, Verwirrung, Angst, Aggression etc. zu interpretieren. Selbstverständlich muss in Rechnung gestellt werden, dass hier systematische Verzerrungen vorkommen, die aufgrund der Vertrautheit mit menschlichem Verhalten tierliches Verhalten in Analogie und damit gelegentlich falsch interpretieren.
Dennoch gibt es über Speziesgrenzen hinweg eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten, die vom Körperbau, der Struktur der Nervenbahnen
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