Der Sokrates-Club
Auffassung ist Identität keine Frage des Entweder-Oder, sondern des Mehr oder Weniger. Wir verändern uns jeden Tag, nach schweren Unfällen mit Hirnverletzungen ändern wir uns unter Umständen so stark, dass wir möglicherweise gar nicht mehr von derselben Person sprechen wollen. Es gibt dann jemanden, der vor diesem Unfall und jemanden, der nach diesem Unfall gelebt hat. Aber auch dieser jemand verändert sich über die Jahre deutlich. Der kleine Junge, der vor sechzig Jahren die Welt erkundet hat, und der alte Mann, der sich an diese Zeit zu erinnern sucht, haben zwar noch das eine oder andere gemeinsam, aber es handelt sich nicht mehr um dieselbe Person. So sieht das die gradualistische Auffassung.
Das Phänomen der Verjährung im Strafrecht kann man als Ausdruck eines solchen Gradualismus interpretieren. Die Person, die vor dreißig Jahren ein schreckliches Verbrechen begangen hat, ist so fern, ist so stark unterschieden von der Person, die dreißig Jahre später gefasst wird, dass man diese nicht mehr für ihre vergangenen Taten zur Verantwortung ziehen kann. Von besonderem Interesse sind für viele Gradualisten Erinnerungen und Erzählungen. Denn ihrer Ansicht nach wird die Identität einer Person dadurch gestiftet, dass sie die Geschichte ihres vergangenen Handelns erzählen kann und sich an frühere Erfahrungen erinnert.
Die ethische Position
Man könnte als dritte Position die ethische Auffassung personaler Identität ins Spiel bringen. Die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, wie wir uns wechselseitig zur Verantwortung ziehen, wie wir auf Fehlverhalten reagieren und unser eigenes Fehlverhalten entschuldigen, welche moralischen Gefühle wir entwickeln, setzt voraus, dass es Akteure gibt, die für das, was sie tun, verantwortlich sind.
Bei kleinen Kindern oder unreifen Erwachsenen haben wir den Eindruck, dass sie nicht vollständig für das, was sie tun, zur Verantwortung gezogen werden können. Sie haben einmal diese und einmal jene Wünsche, das, was sie gestern für richtig hielten, hat sich am Tag darauf bereits vollständig verändert, sie bedenken nicht die langfristigen Folgen dessen, was sie tun, und können ihr Verhalten nicht vollständig plausibel machen. Im Extremfall verstehen sie ihr eigenes Verhalten nicht, auch wenn es nur wenige Tage zurückliegt.
Aber von den anderen, von Erwachsenen und geistig Gesunden, verlangen wir die charakteristischen Akteurs-Eigenschaften: Die Begründungen für eigenes Handeln müssen auch über die Zeit hinweg stimmig bleiben. Die Person muss in der Lage sein, sich Kritik gegenüber rechtfertigen oder eigene Fehler eingestehen zu können. Sie wägt Gründe ab und entscheidet sich für die besseren. Ihr Handeln ist von Gründen geleitet. Sie erscheint uns erst dann als voll verantwortlicher Akteur mit einer personalen Identität, die sich über lange Zeiträume hin erstreckt. Als Gradualist wird man aber zugestehen, dass es auch in solchen Fällen im Laufe vieler Jahre oder nach traumatischen Erfahrungen Veränderungen geben kann, die die Identität über die Zeit einschränken oder gar aufheben.
»Vielleicht bin ich lieber das, was ich liebe, also meine Familie, meine Mama. Das gehört doch alles zu mir!«
Kommunitarismus
Manche Philosophen und Kulturwissenschaftler meinen, dass es vielmehr die Zugehörigkeit zu Gemeinschaften ist, die unsere Identität bestimmt. Man nennt Vertreter dieser Auffassung meist » Kommunitaristen«. Manche Kulturanthropologen und Soziologen wie etwa Mary Douglas gehen so weit, anzunehmen, dass es gar keine individuellen Identitäten gibt. Demnach wäre es lediglich eine – nützliche – Illusion, anzunehmen, dass es verantwortliche Personen gibt. Wir funktionieren in einem vorgegebenen Rahmen von Regeln und Erwartungen und geben uns allenfalls der Illusion hin, wir seien Autoren unseres Lebens.
»… wenn er wirklich will, … dann kann er sich schon ändern.«
Existentialismus
Für Existenzialisten wie etwa Jean-Paul Sartre und Albert Camus ist der Einzelne in jedem Zeitpunkt frei, seinem Leben eine neue Richtung zu geben. In diesem Sinne ist jeder Einzelne radikal frei und kann seine Existenz immer wieder neu bestimmen. Für Existenzialisten besteht gerade darin die volle Verantwortlichkeit jedes einzelnen Individuums. Diese Vorstellung zu Ende gedacht, stellt sich allerdings die Frage, ob mit dieser Möglichkeit, » sich selbst neu zu erfinden«, nicht auch die Kontinuität der Person infrage gestellt
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