Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
Vordergrund ein Jesus mit orangefarbenem Haar, der die Arme gen Himmel reckt. Sie gelangen in einen noch schmaleren, noch dunkleren Gang mit Steinfußboden, auf dem Grettas Schuhe unangenehm laut werden. Das Klack-Klack hallt bis in ihren Kopf, und sie würde jetzt gern zu ihren Tabletten greifen, traut sich aber vor der Nonne nicht.
»Kommen Sie von weither?«, fragt die Nonne nach hinten.
»Nein, nicht allzu weit, Schwester.« Gretta muss alle ihre Kräfte mobilisieren, um Schritt zu halten. Hat unter ihrem Habit wahrscheinlich lange Beine, räsoniert Gretta. »Na ja, aus London eben. Aber eigentlich stamme ich von hier. Ich bin in der Nähe von Claddaghduff groß geworden, da erscheint es einem nicht so weit, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Die Nonne schweigt dazu.
»Wie lange ist Francis denn schon bei Ihnen?« Die Frage ist riskant, und ihr Herz rast, denn es ist der einzige Teil der Geschichte, den sie noch nicht kennt.
Die Nonne wendet den Kopf, während sie die nächste Treppe hinabgehen. »Schon lange. Mr Riordan ist sicher schon fünfzehn Jahre bei uns.«
Gretta gibt alles, um mit der Schwester gleichzuziehen. Danach gehen sie nebeneinander weiter.
»Wie Sie wissen, war es um seine Gesundheit nicht gut bestellt. Aber er hat, so gut er konnte, den Garten gepflegt und kleinere Arbeiten im Haus erledigt. Wir haben ihn immer als Bereicherung für unsere kleine Gemeinschaft angesehen. Doch jetzt«, setzt sie hinzu, »geht seine Zeit bei uns dem Ende zu.« Endlich bleibt sie vor einer Tür stehen. »Hier ist es«, sagt sie und weist den Weg. »Treten Sie ruhig ein.«
»Hier?« Gretta wischt sich mit dem Taschentuch den Schweiß vom Nacken und fasst ihre Tasche fester. »Hier ist er?«
Die Nonne neigt den Kopf. »Sie dürfen eintreten«, sagt sie erneut.
»Ich will Ihnen keine Mühe bereiten, Schwester, aber dürfte ich Sie um ein Glas Wasser bitten? Es war so ein langer Weg, und ich muss meine Tabletten nehmen. Ich gehe auch gerne mit, was für Sie bestimmt einfacher ist, so müssen Sie den gleichen Weg nicht noch einmal gehen und …«
»Warten Sie hier«, sagt die Nonne. »Ich bin sofort wieder da.«
So bleibt Gretta also vor der Tür zurück. Sie schaut sich um. Linker Hand befindet sich eine weitere Treppe, rechts steht ein unbequemer Stuhl mit Löwenfüßen. Warum hat sie in dem ganzen Durcheinander nicht bedacht, dass Robert sie vielleicht gar nicht hierhaben will? Und was, wenn er es ablehnt, wieder nach Hause zu kommen? Erst vor dieser Tür wird ihr klar, dass sie eine große Dummheit begangen hat. Dort hinter der Tür ist Robert mit seinem Bruder, und er ahnt nicht einmal, dass sie um die Existenz dieses Bruders weiß, einschließlich der geraubten Braut und der langen Haftstrafe – wofür auch immer. Robert hatte seine Gründe, diese Geschichte vor ihr geheim zu halten, und sie trampelt einfach darauf herum und rückt ihm ungefragt auf die Pelle. Das ist glatter Wahnsinn. Was hatte ihre Mutter immer gesagt: Lauf keinem Mann hinterher, das schadet nur. Warum hat sie nicht auf ihre Mutter gehört? Warum ist sie überhaupt nach London gegangen? Sie hätte doch auch einen netten Bauernsohn aus Galway heiraten können, dann stünde sie heute anders da. Auf jeden Fall nicht als gedemütigte Frau, die nicht einmal …
Von irgendwoher nähern sich gedämpfte Schritte, viele Schritte, und sie vernimmt ein leises Klirren wie von Schlüsseln oder Besteck. Allein die Furcht, hier gesehen zu werden wie bestellt und nicht abgeholt, treibt sie durch die Tür und in das Zimmer dahinter.
Nach dem düsteren Korridor ist die Helligkeit wie ein Schlag ins Gesicht. Sie beschirmt ihre Augen, bis sie sich an das Licht gewöhnt hat. Das Zimmer ist klein, mit hohen Wänden und Aussicht auf einen Garten. Sonst gibt es nicht viel: ein Bett, einen Stuhl, das ist alles.
Der Stuhl ist leer, das Bett nicht.
Gestreiftes Bettzeug, Bettgestell aus Metall, zerwühlte Laken. Die Person in dem Bett ist lang und dünn. Was Gretta so nicht erwartet hätte, da Robert eher klein und rund ist. Aber hier stoßen die Füße selbst bei angezogenen Knien an den Rahmen. Auf dem Nachtschränkchen jede Menge kleiner Fläschchen, eine Nierenschale, daneben eine Sauerstoffflasche mit einem transparenten Schlauch, der zum Gesicht der Person führt.
Gretta macht sich gleich an die Arbeit. Sie streicht die Decke glatt, ebenso die Laken, damit sie an den Ecken ordentlich untergeschlagen werden können und alles wieder ein Gesicht
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