Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
konnten ihm die Tränen in die Augen treiben. Ihr Vater nannte ihn einen Waschlappen und meinte, er bräuchte mehr Härte. Schon mehrmals sah sich Monica genötigt, einigen Jungs in ihrer Klasse »die Meinung zu geigen«, wie ihre Mutter sagte. Einige hatten es regelrecht auf ihn abgesehen. Er war zwar recht groß für sein Alter, aber eher der Bücherwurm und keiner, der sich prügelte. Sie seufzte und stupste ihn aufmunternd in die Seite. »Schon gut, ich glaube nicht, dass Mammy davon …«
Aber da hörten sie aus der Wohnstube eine Stimme. Eine schwache Stimme, keineswegs das donnernde Organ ihrer Mutter. »Seid ihr das, Kinder? Macht ihr euch was zu essen?«
Sie blickten sich an. Michael Francis wischte sich mit dem Pulloverärmel das Gesicht ab. Dann rannten sie in die Wohnstube. Ihre Mutter lag noch genau so da wie zuvor, doch ihre Augen waren offen, und sie streckte die Arme nach ihnen aus. »Ach, ihr seid schon etwas Liebes«, sagte sie. »Dass ihr für mich kochen wollt. Ich würde sagen, dafür habt ihr euch ein Eis verdient. Geht jemand zum Kaufmann und holt eine Packung?«
Damit schien die Normalität wiederhergestellt. Sie machten also das Essen, aßen, und am Schluss gab es Eiscreme, jeder bekam eine dicke Scheibe in Gelb-Braun-Rosa. Dann kam ihr Vater nach Hause und aß ebenfalls. Doch am nächsten Tag, nach der Schule, schlief sie abermals. Und am Wochenende ging ihr Vater mit ihnen in den Park, damit ihre Mutter sich »ausruhen« konnte. Monica saß auf der Schaukel und kratzte mit dem Schuh im Sand. Sie sah zu ihrem Vater auf der Parkbank hinüber, der sich hinter der Zeitung verschanzt hatte, anschließend zu Michael Francis, der einen Ball in die Luft warf und ihn mit der Brust auffing. Sie wäre am liebsten aufgestanden, zu ihrem Vater gegangen und hätte ihn gefragt, was eigentlich mit Mammy los war, was ging da vor? Aber ihre Beine rührten sich nicht, und sie hätte auch kein Wort herausbekommen. Und selbst wenn, ihrem Vater konnte sie sie nicht sagen und hätte auch seine Antwort nicht verstanden.
Doch ein paar Wochen später sagte ihr Vater es ihnen auch so. Ihre Mutter, sagte er, sei »guter Hoffnung«. Sie und Mi chael Francis sahen ihn von unten, vom Kaminteppich her an, und er schien größer als je, wie er da so stand mit seinem abstehenden Haar, das aussah wie eine Streichholzflamme. Guter Hoffnung. Vor ihrem inneren Auge sah sie einen Bahnhof voller Leute, die auf ein leeres Gleis blickten und hofften, dass der Zug bald käme. Einen kleinen Hund mit großen Augen, der sich auf die Hinterbeine gestellt hatte. Jemanden, der sich neben den Briefschlitz an die Haustür gesetzt hatte und auf den Briefträger wartete. Allesamt erwarteten sie etwas.
»In den nächsten Monaten müsst ihr eurer Mutter viel mehr helfen als sonst, kapiert?«
Sie nickten aus Gewohnheit. Sie wussten, es war die korrekte Antwort auf die Frage, ob man etwas kapiert hatte.
»Sie darf nichts heben, keinen Einkaufsbeutel, auch keinen Eimer Wasser, nichts. Deshalb erledigt ihr das, kapiert?«
Sie nickten synchron.
»Sie braucht jeden Tag ihre Mittagsruhe, und ihr dürft sie dabei nicht stören.«
»Ja, Daddy«, sagte Monica.
Danach ließ Monica, wenn sie da war, ihre Mutter nicht mehr aus den Augen, hatte sogar Angst, zur Schule zu gehen, weil ihre Mutter nicht allein sein sollte. Sobald ihre Mutter auch nur einen Teller hob, eine Tasse oder ihr Strickzeug, schloss Monica die Augen. Sie wollte nicht sehen, was jetzt passierte, denn dass etwas passieren konnte, jeden Moment passieren konnte, stand für Monica außer Frage. Sie hatte nämlich gelauscht, als ihre Mutter sich über dieses Thema an der Gartenmauer mit ihren Nachbarinnen unterhalten hatte. Praktisch alles an ihrem Zustand barg Risiken, war potentiell gefährlich, konnte schiefgehen, und das wiederum lag an den früheren Malen. Deshalb hatte der Arzt auch deutlich abgeraten, es war es nicht wert.
Monica schlief nicht mehr, sondern lag nächtelang wach und fädelte die Decke durch ihre Finger, ein Finger über der Decke, einer unter der Decke, bis ihre Hände mit der Decke verzahnt waren. Sie horchte auf die Geräusche, die ihre Eltern machten, wenn sie abends zu Bett gingen. Hörte Zähneputzen aus dem Bad, hörte, wie ihre Mutter ins Bett sank und wie ihr Vater die Haustür abschloss. Sie lag auch dann noch wach, als ihr Vater längst schnarchte, ein Geräusch wie ein alter Motor auf Bergfahrt. Sie horchte auf alles, was irgendwie noch da war:
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