Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
erbrach, in verblüffend heftigen, gelblich weißen Fontänen, die bis an die Wand, bis aufs Sofa spritzten. Sie schrie, wenn sie auf den Rücken gelegt wurde, egal wie kurz und egal ob sie ins Bettchen oder in den Kinderwagen gelegt wurde, sie schrie endlos. Dabei boxte sie mit ihren kleinen Fäustchen und füllte jeden Raum mit nervenzerfetzendem Lärm. Gequält von ihrem ganz eigenen Schmerz presste sich das kleine Gesicht die Tränen aus den Augen, bis sie den Kragen des Stramplers durchnässt hatten, und die Beine radelten in der Luft, als wäre sie ein Spielzeug zum Aufziehen. Gleichzeitig zog sich ihr Gesicht krumpelnd zusammen, bis es fast nicht mehr da war und gab dabei Staccato-Laute von sich, die so scharf waren, dass man sich daran schnitt, wenn man zu nah dran war. Irgendwann ließ Gretta kraftlos den Kopf in die Hände sinken, und Monica warf ihre Hausaufgaben hin, nahm das Baby und begab sich – nur sie und Aoife – auf den trostlosen Rundkurs durch die Küche.
Ihre Mutter schleppte das Kind zum Arzt, und der empfahl, nach einem kurzen Blick in den brüllenden Kinderwagen, Flaschennahrung. So zockelten sie also alle, Monica und Michael Francis und ihre Mutter und der Kinderwagen, zur nächsten Apotheke und kauften blitzneue Fläschchen mit orangefarbenen Saugern und eine Dose Säuglingsmilch. Doch schon nach dem ersten Schluck drehte Aoife angewidert den Kopf weg und fing sofort wieder an zu schreien.
Monica stand im Flur, der von Jenny einst schokoladenbraun gestrichen worden war. Sie wollte das schon immer ändern, bei Braun wurde ihr übel. Nur über den Farbton war sie sich uneins. Zartrosa oder lieber ein fröhliches Orange? Ocker oder Lindgrün?
Sie nahm den Telefonhörer und hielt ihn in der Hand. Jetzt würde ihr Michael Francis die Schreckensnachricht überbringen, mit dem genauen Zeitpunkt und allen Einzelheiten zum Hergang. Was sollte sie darauf antworten? Natürlich, es gab allerhand zu regeln. Aoife lebte in New York, ihre Eltern in London. Wie bekam man alle zusammen? Und vor allem wo? Sollten sie alle nach New York fliegen? Oder sich in London treffen? In Irland? Wo war der Ort für ihre Trauer?
Sie hielt den Hörer ans Ohr und horchte in die Geräuschkulisse des brüderlichen Hauses – Lauscherin an der Wand. Im Hintergrund plärrte ein Kind, mit ansteigender Frequenz. Darüber legte sich die Stimme eines zweites Kindes, das etwas von Mammy sagte und der obligatorischen Gutenachtgeschichte. Schließlich hörte sie ihren Bruder sagen: »Ich zähle bis drei, dann gehst du von den Fensterbank runter, hast du mich verstanden?«
»Michael Francis?«, meldete sich Monica und schickte ihre Stimme pflichtschuldig auf die Reise nach London. Aber eigentlich wollte sie gar nicht hören, was er zu sagen hatte, denn sobald er es gesagt hätte, müsste sie alles annehmen. Annehmen und in ihr Innerstes einschließen bis ans Ende ihrer Tage.
»Herrgott, verdammt, Monica«, sagte Michael Francis, und Monica wusste sofort, dass niemand gestorben war, sondern dass es vielmehr eine weitere Katastrophe gab, von der sie nichts wusste, und diese neue Lage machte ihr nicht weniger zu schaffen. »Zum Teufel, wo hast du gesteckt?«
»Hier«, sagte Monica und straffte sich. Wie kommt er dazu, so mit ihr zu reden? »Ich war hier, die ganze Zeit.«
»Ich versuche schon den ganzen Tag, dich zu erreichen. Warum gehst du nicht ans Telefon?«
»Ich war beschäftigt. So wie jetzt. Was hast du?«
»Dad ist verschwunden.«
»Was?«
»Er wird vermisst.«
»Vermisst? Wie das? Wahrscheinlich ist er bloß …« Monica sprach nicht weiter. Ihr Vater tat so etwas nicht. Dass er überhaupt jemals etwas Ungeplantes, Unerwartetes tat, war ein geradezu lachhafter Gedanke, schon der Gang zum Supermarkt wollte bei ihm genau bedacht sein. »Aber er kann nicht einfach weg sein«, sagte sie. »Wahrscheinlich hat er nur …« Sie musste erst einmal Luft holen. Noch immer beschäftigten sie die Nachwirkungen der erwarteten Todesmeldung und die Frage, wo sie Aoife begraben sollten. Aber das hier war so grotesk, so unglaublich, dass sie Schwierigkeiten hatte, ihre Gedanken darauf umzustellen. »Hat Mum denn auch überall … keine Ahnung … nachgeguckt. Ich meine im Haus …«
»Sie haben überall nachgesehen.«
»Wer ist sie?«
»Die Polizei«, sagte Michael Francis ungeduldig, wohl um ihr den Ernst der Lage beizubringen – wenn sie schon den ganzen Anfang verpasst hatte. »Mum hat ihn seit heute Morgen nicht mehr
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