Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
auf unterstem Niveau angesiedelt sei und dass sie nicht einmal Zahlen richtig schreiben könne, geschweige denn einfache Rechenaufgaben wie Addieren bewältige. Kurz, dass sie ihre Versetzung nicht befürworten könne. Mrs Saunders sagte während des gesamten Gesprächs auch immer nur »Eva« und meinte, als Gretta sie berichtigte, Eva statt Aoife sei »für alle Beteiligten das Beste«. Und überhaupt die korrekte Schreibweise, wie solle Eva sonst lernen, was Rechtschreibung ist. Monica, die mit dabei war, spürte, wie ihre Mutter Luft holte, sich zu voller Größe aufpumpte und die Fäuste auf dem Lehrertisch platzierte – und machte die Augen zu.
Wie auch immer, Aoife/Eva wiederholte das erste Schuljahr und wiederholte es danach ein weiteres Mal. Drei Jahre später war sie immer noch in der ersten Klasse. Sie saß immer ganz hinten, eingeklemmt in ein Pult für die Kleinen und schrieb die Buchstaben weiterhin verkehrt herum oder auf dem Kopf. Ihr Hirn ersann Wörter, die rückwärts buchstabiert oder quer über die Zeilen geschrieben wurden, gespiegelte Zahlenreihen.
Es war die Zeit, in der Monica mit Joe ging oder die Abende vor ihren Krankenpflegebüchern saß, sodass das Aoife-Problem, wie es in der Familie genannt wurde, langsam aus ihrem Gesichtsfeld geriet. Durch Joe war sie, zum ersten Mal in ihrem Leben, von der Verantwortung für Aoife entbunden.
Dann eines Abends geschah Folgendes: Aoife war noch immer in der ersten Klasse, quälte sich einmal mehr durch das Lesebuch mit der Katze und der Maus, wobei ihr Michael Francis sogar jeden Buchstaben vorsagen musste. Dann schaltete sich Joe ein und fragte: »Sag mal, warum tust du das?«
Keine Antwort.
»Aoife? Warum machst du das?«
Widerwillig und mit angespanntem Gesicht blickte Aoife hoch, und es war gut zu sehen, wie ihr in diesem Moment alles entfiel, was sie sich soeben von der Katze und der Maus in dem schönen bunten Haus eingetrichtert hatte. »Was meinst du?«
»Das mit der Hand über deinem Auge«, sagte Joe und schnippte Zigarettenasche in den Kamin.
»So springen die Buchstaben nicht dauernd hin und her«, sagte sie, verdeckte ihr Auge erneut und kehrte wieder zu ihrem Buch zurück.
Joe fand diese Erklärung wahnsinnig komisch und erzählte sie noch am gleichen Abend im Pub. Monica lief rot an, als er das tat. Sie wollte nicht, dass die Leute über Aoife lachten und auch nicht, dass irgendjemand wusste, dass sie eine Schwester hatte, die nicht normal war.
Aber dann machte ihr Joe einen Heiratsantrag, und es war auf einmal nicht mehr wichtig, aus welchem mysteriösen Grund sich Aoife zur Schulversagerin entwickelte. Es war egal, ob sie weder lesen noch schreiben konnte. Es war auch egal, dass Monica noch immer ein Zimmer teilte mit einem Kind, das nachts Selbstgespräche führte oder in Alpträumen schrie. Es war egal, dass sie in der Zwischenprüfung ihrer Krankenschwester-Ausbildung so schlecht abgeschnitten hatte oder dass ihr Vater kaum noch ein Wort sagte oder Gretta ihren Regenmantel mit einem Tacker reparierte. Nichts zählte noch, denn sie, Monica, war auf dem Sprung, diese Familie zu verlassen und ihre eigene zu gründen. Es wäre sogar egal gewesen, wenn sie ihre Ausbildung geschmissen hätte, echt, scheißegal, denn was sollte sie auf dieser blöden Krankenpflegeschule, wenn sie bald einen Mann samt Wohnung über einem Laden haben würde, zum ersten Mal etwas ganz für sich allein.
»Also mich brauchst du nicht zu fragen«, sagte Monica zu ihrem Bruder am Telefon. »Ich habe keine Ahnung, wie man sie erreicht.«
New York
W ährend Michael Francis noch mit Monica debattierte, während Monica den Hörer auflegte und durch den Flur wieder ins Esszimmer ging, wo sie sich Peter in die Arme sinken ließ und dafür seinen äußerst eigenen Geruch zu spüren bekam, eine Mischung aus Abbeizer, Sägespänen und Lack, während also all dies geschieht, schleppt sich Aoife 3.500 Kilometer weiter westlich und durch die Zeitverschiebung fünf Stunden früher die Treppe eines Wohnblocks hoch. Um ihre Schulter hängt eine Tasche, an den Füßen trägt sie ein Paar Stiefel mit offenen Schnürsenkeln, die allmählich hinderlich werden, aber zum Stehenbleiben ist sie schon zu weit oben.
Die Tasche ist schwer, der Tag ist heiß und staubig, und ihre Füße rutschen in den Stiefeln hin und her, denn sie sind zwar eine Nummer zu groß, trotzdem musste sie sie haben. Russische Armeestiefel, wie der Mann auf dem Flohmarkt bemerkte, als sie sie, auf
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