Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
gesehen, und mittlerweile gehen sie davon aus, dass er …«
»Seit heute Morgen?«, rief Monica. »Aber das ist eine Ewigkeit.«
»Ich weiß.«
»Haben sie auch … keine Ahnung. Wollte er irgendwohin? Oder hat er vielleicht …«
»Monica«, sagte er nachsichtig. »Er hat vorher Geld abgehoben.«
»Oh.«
»Und soweit wir wissen, hatte er auch keinen Unfall. Er hat sich einfach … verdrückt.«
»Und wohin?«
»Das wissen wir eben nicht.«
»Was sagt denn die Polizei? Was wollen sie unternehmen?«
»Sie sagen, erst einmal können sie gar nichts tun.«
»Und warum nicht?«
»Sie sagen, es sei gar kein Vermisstenfall. Wir glauben, er hat auch seinen Pass mitgenommen. Als Erstes ist er wohl zur Bank gegangen, aber von da an wissen wir nichts mehr. Er ist einfach weg.«
Monica starrte auf die Stelle, wo die braune Farbe vom Treppengeländer abgeblättert war und dadurch frühere Farbschichten freilegte. Wie Jahresringe an einem Baum. Ein mattes Türkis, ein kräftiges Lila, Cremeweiß. Einen Moment lang dachte sie an all die Menschen, die wie sie in diesem Flur gestanden und überlegt hatten, in welcher Farbe sie ihn streichen sollten.
Michael Francis redete unterdessen weiter. Dass sie unbedingt nach London kommen müsse, um ihrer Mutter zu helfen. Und dass sie Aoife verständigen müssten, er habe bloß keine aktuelle Telefonnummer. Unter der Nummer, die sie ihm gegeben hatte, sagte man ihm nur, dass Aoife nicht mehr für die Firma tätig sei.
Das war wieder typisch Aoife, dachte Monica. Ändert ihr halbes Leben, aber sagt niemandem etwas. Irritiert stellte sie fest, dass sie schon wieder nur an Aoife dachte, ihr Gehirn war offenbar so programmiert. Aber warum drehte sich immer alles nur um Aoife, nicht nur heute, sondern eigentlich immer schon? Egal ob als Baby, als Kind oder als erwachsene Frau, Aoife beschäftigte sie. Der Altersunterschied zwischen ihnen erlaubte ihr, das Leben ihrer Schwester gewissermaßen von oben zu betrachten. Von dort aus überblickte sie alles. Wie hatte sie als Baby geschrien. Nonstop. Aber man gewöhnt sich an alles, selbst an ein Leben unter Daueralarm. Aoife schrie in ihrem Hochstuhl, sie schrie im Kinderwagen, sie schrie im Auto, im Bus, im Bettchen, in der Babytrage. Und wenn Monica ihr den Laufgurt anlegte, um ein Viertelstündchen (Gretta brauchte wenigstens diese kleine Pause) mit ihr spazieren zu gehen, dann tat sie es mit einem verstockten, unausstehlichen, wütend trampelnden Gnom, der biss, kratzte und brüllte, wenn er eine hohe Treppe nicht selber erklimmen durfte. Aber wenn man dieses Theaters müde wurde oder einfach nicht mehr gebissen oder gekratzt werden wollte und den Gnom gewähren ließ, und er knallte dann hin und schlug sich den Kopf auf, dann brüllte er erst recht.
Außerdem kam Aoife praktisch ohne Schlaf aus. Bis ins Vorschulalter wachte Aoife regelmäßig fünfmal pro Nacht auf und zerriss die Dunkelheit mit ihrem Geschrei. Dann schlurfte ihre Mutter, grau im Gesicht, ins Kinderzimmer, um sie wieder in den Schlaf zu lullen. Meistens versuchte Monica, die direkt neben Aoife schlief, ihr zuvorzukommen, damit ihre Mutter gar nicht erst aufwachte und endlich einmal ausschlafen konnte. Vielleicht würde sie dann ja wieder werden wie vorher: groß und prall, ins Leben verliebt und, mit ihrem Hut auf dem Kopf, immer irgendwo auf Besuch oder auf dem Weg in die Kirche. Nicht dieses seltsam geschrumpfte, geisterhafte Wesen, das ruhelos durch die Zimmer strich. Doch so leicht machte es Aoife ihr nicht, denn die Kleine hatte immer etwas. Alpträume über furchtbare Tiere unter ihrem Bett, Dinge, die nachts ans Fenster klopften, oder über den schwarzen Mann hinter der Badezimmertür. Wenn Monica sie dann in den Arm nahm und ihr zeigte, dass der schwarze Mann hinter der Milchglasscheibe nichts anderes war als der Bademantel ihres Vaters, hörte Aoife zwar auf, an ihren Haaren zu drehen, aber nur kurz. Denn prompt erwiderte sie: »Aber nicht vorhin, vorhin war da der schwarze Mann.«
Ihr Vater meinte, Aoife sei eben schwierig, und ihre Mutter sagte, Aoife sei ein Kreuz, die Strafe dafür, dass sie noch eines gewollt hatte. Bridie empfahl, dem Kind mal ordentlich den Hintern zu versohlen, und der Arzt winkte gleich ab. »Ach so, sie haben eins von den Schreikindern«, sagte er und verschrieb Gretta ein Beruhigungsmittel, das erste von vielen.
Danach schlief ihre Mutter nur noch und war selbst im wachen Zustand nie ganz wach. Oft schützte Monica in der
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