Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
der Bürgersteigkante hockend, anprobierte, die Füße im Rinnstein. Die halten nicht nur einen Winter, setzte er hinzu, während sie an den verknubbelten Senkeln zerrte und ihre Füße sich im hartledernen Innenraum der klobigen Treter streckten. Komisch, wie lange sich Füße täglich an einem Ort aufhalten, den man nie gesehen hat. Sie hat es einmal versucht, vermochte aber nie bis an das Ende des feuchtwarmen Tunnel zu spähen, den ihre Zehen so intim kannten. Die Dinger sind schon durch die russische Steppe gelatscht, sagte Gabe und hob ihren Fuß an, um einen Blick auf die Sohle zu werfen. Ziemlich klein für einen Soldaten, sagte er.
Unterdessen müht sich Michael Francis, die Kinder bettfertig zu machen. Also Schlafanzug anziehen und Zahnpasta auf die jeweilige Zahnbürste gedrückt. Gretta macht derweil einen Küchenschrank auf und entdeckt einen Webrahmen mit einem halbfertigen Blumentopfschoner aus Makramee. Monica nimmt von Peter einen Brandy entgegen, setzt sich aufs Sofa und zieht die Beine unter sich. Und Aoife bleibt stehen, um Luft zu holen für die letzte Etappe der Treppe.
An ihren Füßen trägt sie die Stiefel eines Toten, in ihrer Tasche ist schachtelweise Rollfilm, aber nur von dieser ganz bestimmten Sorte, die Evelyn braucht. Ein Film, der sich gut mit Silberbromidpapieren verträgt, der das Weiß des Bildhintergrunds schön milchig werden lässt und gleichzeitig die Konturen des Vordergrunds schärft, jeden Muskel, jede Regung im Gesicht ihrer Modelle hervorhebt. Dieser Film ist nur noch in einem einzigen Geschäft in Brooklyn zu haben, sodass Aoife alle paar Monate losgeschickt wird, um Nachschub zu besorgen. Sie fährt gerne dorthin, denn die Fahrt beginnt tief in den Eingeweiden von Manhattan, erst später steigt der Zug an die Oberfläche, und Licht schraffiert die Gesichter der Fahrgäste.
Während sie am Treppengeländer verschnauft, erscheint vor ihr ein Schild, das jedem anderen nur eines sagen würde: 5. OBERGESCHOSS . Aber Aoife kann mittlerweile nicht mehr hinsehen, denn dieses Schild ist ihr Feind, der sie schon oft angefallen hat. Geschriebene Wörter sind gefährlich, wie morastiger Grund, man kann ihnen nicht trauen. In der einen Sekunde sagen sie noch ganz unverfänglich 5. OBERGESCHOSS , doch dann beginnt ein brechreizerregender Tanz der Buchstaben, und die Schrift an der Wand verändert sich zu ominösen Sachen wie BECHER GOSS SO 5. Oder BERG SOSSE OCH . Oder gar BESCHOSS ER .
Als sie damals in New York ankam, kannte sie niemanden. Sie kam überstürzt, wie jemand, der auf einer Türschwelle gestolpert ist und nun unversehens mitten im Zimmer liegt. Ihr Leben in London hatte sie binnen weniger Tage abgewickelt, verschenkte alles, was sie nicht tragen konnte, ließ sogar ihr Fahrrad vor dem Haus stehen, versehen mit einem Zettel: »Wer’s braucht: einfach mitnehmen.« Sie kannte da jemanden, der einen Amerikaner kannte, der mal gesagt hatte, sein Patenonkel hätte da einen Musikclub irgendwo in der Bowery, bei dem könne sie arbeiten, ganz sicher. Nicht gerade die Chance ihres Lebens, aber Aoife ergriff sie.
Als sie damals in New York ankam, hielt sie immer Ausschau nach Familien. Auf der Straße, im Café, in der Schlange vor dem Kino, im Central Park. Sobald sie eine Familie sah, musste sie sie studieren. Sie lief ihnen nach, setzte sich auf eine Bank in der Nähe oder machte sich an sie heran, um mitzuhören, was sie sagten. Ob junge oder alte Familien, war ihr egal, Hauptsache Familie. Sie schaute in Kinderwagen und Buggys und freute sich, wenn sie Ähnlichkeiten zwischen Mutter und Kind entdeckte, etwa die weit auseinanderliegenden Augen oder den spitzen Haaransatz. Einmal beobachtete sie einen Vater und die halbwüchsige Tochter beim Bagelessen vor einem kleinen Lebensmittelladen. Beide leckten sich auf dieselbe Weise die Unterlippe ab. Eine Spiegelung, die ihnen nicht einmal bewusst war. Und auf dem morgendlichen Weg zur U-Bahn begegnete sie einem älteren Mutter- Tochter-Paar, deren Lippenstift dieselbe Farbe hatte. Auch die Haare waren identisch, es war hauchfeines, flaumleichtes Haar, nur dass es die Mutter zu einem Knoten gebunden hatte und die Tochter es trotzig kurz trug – was ihr gar nicht stand, wie Aoife fand. Oft war sie versucht, der Tochter zuzuflüstern: Lass diesen Quatsch, lass es wachsen und dann mach einen Knoten, das sieht besser aus.
Als sie damals in New York ankam, kannte sie noch niemanden und hielt immer Ausschau nach Familien. Sie
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