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Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Titel: Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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demonstrativ ihre Taschen und verdrückt sich bei dieser Gelegenheit in den Flur. Gretta steht auf und folgt ihr.
    »Hat er einen Beruf?«, fragt Gretta.
    »Mum, bitte«, äußert sich Michael Francis hinter ihr. »Lass sie doch anrufen, wen sie will.«
    »Oder ist es wieder nur so ein Künstler?«
    An der Tür dreht sich Aoife um und wischt sich die Haare aus dem Gesicht. (Wie gern würde Gretta die einmal durchkämmen!) Dann sagt sie: »Nein, er ist Anwalt. Oder wird es demnächst. Zufrieden?« Und reißt die Tür auf, ebenfalls wie früher. »Ich bin bald wieder da.« Wamm! fällt die Tür ins Schloss. Es hat sich nichts geändert.
    »Nun ja«, sagt Monica und setzt sich in den Sessel, den Aoife freigemacht hat. »Wie ich sehe, hat sich ihr Benehmen in New York nicht gerade verbessert.«
    Michael Francis seufzt und will etwas sagen, doch Gretta stürmt in die Küche.
    »Habt ihr das gehört?«, ruft sie. »Ein Anwalt. Sie ist mit einem Anwalt zusammen.«
    »Ach ja?«, fragt Michael Francis. »Wann hat sie das gesagt?«
    »Gerade eben, an der Tür. Wer hätte das gedacht?« Gretta nimmt die Tischwäsche, die Monica soeben gefaltet hat, und stopft sie aufs Geratewohl in eine Schublade. »Aoife und ein Anwalt!« Endlich hat sie alles verstaut. »Ob er katholisch ist?«
    Aoife ist inzwischen draußen auf dem Bürgersteig und guckt unschlüssig in alle Richtungen, als habe sie vergessen, wohin sie wollte.
    Das englische Kleingeld fühlt sich merkwürdig schwer an, und ihr Portemonnaie kann zwei Währungen auf einmal gar nicht fassen. Da sind amerikanische Zehncentmünzen und solche zu zwei englischen Pence, Fünfcent- und Zehnpence stücke.
    Monica, ihre eigene Schwester, macht einen großen Bogen um sie und tut so, als sei sie Luft. Es war ein Verhalten, das alles negierte, was einmal war. Wir haben nie dasselbe Zimmer geteilt, ich habe nie deine Hand genommen, als du über die Straße wolltest, ich habe dir nie den Kopf verbunden, als du dich am Geländer gestoßen hast, du hast nie meine abgelegten Sachen tragen müssen, ich habe dir keinen Tee eingeflößt, als du mit Pfeifferschem Drüsenfieber daniederlagst, du hast nie im Bett nebenan geschlafen, ich habe dir nie gezeigt, wie man sich die Augenbrauen zupft oder die Schuhe zubindet oder einen Pulli mit der Hand wäscht. Allein die schiere Un vernunft eines solchen Gedankengangs verwirrt Aoife. Vor allem aber tut es weh, wenn sie derart kaltgestellt wird.
    Dabei ist alles nur aus einer Verkettung unglücklicher Umstände entstanden, denkt sie, als sie mit ihrer bleischweren Geldbörse die Straße hinuntergeht. Was wäre passiert, wenn sie an jenem Tag nicht zu Monica gegangen wäre? Wie kam es überhaupt dazu? Richtig, sie war gerade in der Gegend und hatte Monica zuletzt gesehen, als Joe in der Gillerton Road verkündete, dass Monica schwanger sei. Damals hatte sie Monica fragend angeblickt, denn hatte Monica nicht immer gesagt, sie wolle keine Kinder? Nicht ums Verrecken, das waren ihre Worte. Und jetzt saß Monica kerzengerade und mit starrem Gesicht auf dem Sofa und hielt Joes Hand, während ihre Eltern sich mit Glückwünschen überboten.
    Nur deshalb also war sie überhaupt hingegangen. Doch in der Wohnung fand sie eine Monica, der es überhaupt nicht gutging. Leichenblass hatte sie sich in einer Ecke zusammengekrümmt, und ihr Kleid war vollgeblutet. Aoife war sofort zu Monicas Vermieterin gerannt, die ein Stockwerk drunter wohnte, und sie hatten einen Krankenwagen gerufen. Die ganze Zeit über wich Aoife nicht von ihrer Seite, saß auch später bei ihr am Bett, hielt sie, wenn die Schmerzen zu heftig wurden, und versuchte sie zu trösten. Aber mehr als »Es tut mir ja so leid für dich, Mon« konnte sie auch nicht sa gen. Nur da sein, ihr mit dem Taschentuch die Tränen wegwischen – und später, als das Taschentuch nass war, mit ihrem Halstuch. Dann kam Joe ins Zimmer gestürzt und sie, Aoife, ließ die beiden allein und nahm den Bus zurück in die Stadt. Auf der Fahrt fiel ihr auf, wie hell London war, fast wie das Sinnbild des Lebens. Aber wohl auch des Todes. Guck nicht hin, hatte Monica gesagt, das bringt Unglück. Aber wie sollte sie nicht hinsehen? Sie konnte doch nicht zulassen, dass die Krankenschwester die Nierenschale einfach mitnahm, als sei es nichts, am wenigsten ein Mensch, der es einfach nicht auf diese Welt geschafft hatte. Aoife hatte den Eindruck, dass es geradezu ihre Pflicht war, genau hinzuschauen. Hinzuschauen und zu sagen: Ja, du

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