Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
Telefonzelle. Die Hitze hinter dem Glas ist unbeschreiblich. Unerträglich. Sie lehnt sich gegen die Tür und schnappt nach Luft. Aber die Luft draußen ist auch nicht viel kühler und fühlt sich an wie ein feuriger Gasstrom, der ihre Lunge bis in die letzte Verästelung verätzt. Außerdem ist das Metall der Telefonzelle heiß wie eine Kochplatte, sodass sie gleich wieder zurückzuckt. Gibt es denn gar kein Entrinnen vor dieser Hitze, denkt sie.
Immerhin, die Unterlagen liegen jetzt bei Gabe. Die Sache hat sie doch sehr belastet. Das bedeutet jedoch, dass die Folgen ihrer Verschleppungstaktik in ihrem ganzen Ausmaß sichtbar werden. Rechnungen, die über ein Jahr alt sind. Viele Tausend Dollar, die in uneingelösten Schecks schlummern. Was wird Evelyn dazu sagen? Aoife versucht, sich den Moment der Wahrheit vorzustellen. Erst einmal ist Evelyn nur verblüfft, dann entsetzt, am Ende nur noch wütend. Hatte sie sich bei ihrer Einstellung nicht klar ausgedrückt? Sie brauchte jemanden, der sich um den Papierkram kümmert, alle die prosaischen Nebensächlichkeiten, die sie nur von der Fotografie ablenken. Und hatte sich Aoife darum gekümmert? Nein, das hatte sie nicht. Und deshalb fliegt sie jetzt raus. Aoife kennt das schon. Vielleicht hatte sie auch schon immer gewusst, dass es einmal so enden würde. Zumindest hätte sie es spätestens dann wissen müssen, als sie ihren eigenen Arbeitsvertrag in den blauen Hefter entsorgte. Dabei war es der erste Job, der ihr wirklich gefiel. »Ich begreife nicht, wie man so etwas machen kann.« Gabes ernste Stimme war der Vorbote des totalen Untergangs.
Sie blickt in den Himmel und muss ihre Augen schützen, die Sonne steht im Zenit und knallt auf Dächer und Bäume nieder. Die Szene vor ihr – Autos, Busse, Geschäfte, eine junge Frau mit Kinderwagen, so viel Chrom und Glas – flirrt auf ihrer Retina, als habe die Sonne alles infiltriert.
Die Vorstellung, dass sich jemand von ihr zurückzieht, bringt sie aus dem Gleichgewicht, und eine existentielle Angst ergreift von ihr Besitz. Schon bald, denkt sie, hat sie auf der ganzen Welt niemanden mehr.
Sie sieht, wie der Bus aus Islington um die Ecke kurvt, und die stehenden Fahrgäste darin erst zur Seite und dann nach hinten geschaukelt werden.
Wie erwartet hatte sich Evelyn bisher nicht gemeldet, aber das muss noch nichts bedeuten. Sogar wenn sie da ist, geht sie selten ans Telefon. Daher sprach Aoife nur mit dem Anrufbeantworter, erinnerte sie an das Meeting um elf im Atelier mit einem Journalisten, und an die Abzüge für das MoMA, die heute rausmussten. Mit dieser Durchsage ging der letzte Rest Kleingeld in den gefräßigen Geldschlitz, und sie braucht Nachschub. Vielleicht aus einem der Geschäfte. Zu Hause will sie nicht fragen, es würde nur wieder ihre Neugier wecken. Wie soll sie alles erklären, wenn sie weder von Evelyn etwas wissen noch von Gabe noch überhaupt etwas von ihrem neuen Leben. Sie wüsste nicht einmal, wo sie anfangen sollte. Nein, am besten, sie fragt in einem Geschäft, ob sie ihr ein Pfund klein machen können. Vor allem ihre Mutter würde sich unnötig aufregen und ein Riesentheater anfangen.
In der Telefonzelle hatte sie eine seltsame Anwandlung. Und zwar wollte sie ihren Vater anrufen. Einfach die Nummer wählen und die Stimme hören, die da aus den kleinen Löchern des Hörers kam. Wann hatte sie zuletzt mit ihm gesprochen? Vor Monaten. Gelegentlich ruft sie ihre Eltern aus New York an, doch betrachten sie Ferngespräche als nahezu kriminelle Verschwendung, weshalb solche Unterhaltungen eher gesprochenen Telegrammen gleichen: maximale Information bei minimalem Zeitaufwand, Erlösung erst, wenn aufgelegt wird. Daher quasseln ihre Eltern oft gleichzeitig oder fallen sich gegenseitig ins Wort, wodurch Aoife nach kurzer Zeit nur noch Bahnhof versteht. Bekommt sie auch genug zu essen? Geht sie regelmäßig in die Kirche? Hat sie etwas Warmes zum Anziehen?
Sie überquert die Straße. Aus dem rissigen Straßenbelag quellen schwarze Rinnsale von geschmolzenem Teer. Sie achtet darauf, nicht in diese zähe Pampe zu treten, so ähnlich wie bei dem Spiel früher, bei dem man seinen Fuß nicht auf die Fugen im Bürgersteig setzen durfte. Sie erinnert sich an den Kindervers, vor dem ihr gruselte: »Trittst du trotzdem drauf, war’s dein letzter Schnauf …«
Erneut bleibt sie bei dem letzten Schnauf hängen. Sie wischt sich die Stirn ab, als wolle sie das Bild vor ihrem inneren Auge vertreiben, trotzdem
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