Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
sieht sie ihren Vater in einem mit blauem Satin ausgeschlagenen Sarg und ihre Mutter, die mit blutleeren Fingern an ihrem Rosenkranz nestelt. Welche andere Erklärung gibt es denn?
Vor der Bücherei bleibt sie stehen. Sie weiß eigentlich nicht, was sie hier will, sie hat die Bücherei nur erwähnt, um von ihrem Telefonat abzulenken. Früher war sie oft hier, sie mochte die staubige, verschwiegene Atmosphäre, die endlosen Buchreihen, an denen man mit der Hand entlangfahren konnte, in der Hoffnung, die Bücher würden allein dadurch ihre Geheimnisse preisgeben. Doch wie man sieht, hat es nicht funktioniert.
ÖFFNUNGSZEITEN steht – wahrscheinlich – auf dem Schild an der Tür. Und weil sie die Vorstellung von ihrem Vater im Sarg loswerden will, lässt sie den Buchstaben die Freiheit, das zu tun, was sie sonst immer verhindern will, nämlich, dass sie sich selbstständig machen wie Spielkarten in der Hand eines Taschenspielers. Sie wundert sich daher nicht, wie sich das Wort vor ihren Augen zerlegt: ZINS UNGEÖFFNET steht da auf einmal oder ZU SINN GEÖFFNET oder GETÖSE FUNF ZINN, NUTZEN IN GESÖFF, ÖFFNEN IST ZU ENG, ÖFFNEST ZUNGE IN . Und so weiter und so weiter. All das kann aus ÖFFNUNGSZEITEN werden.
Sie versucht, sich zusammenzureißen, es reicht. Wenn sie so etwas nicht unter Kontrolle hat, beschäftigt sich ihr Hirn mit nichts anderem mehr, dabei gibt es für sie so viel zu tun.
Eine Woche nach der Sache im Krankenhaus war Kindergeburtstag bei Michael Francis. Aoife erinnert sich an den kleinen Hughie, der fasziniert auf eine Reihe Kerzen guckt.
Aber sie erinnert sich auch, wie Monica schon da jeden Blickkontakt mit ihr vermied, egal ob beim Öffnen der Geschenke, dem »Happy Birthday« oder später beim Tee, der sich bei den Riordans stundenlang hinziehen konnte. Monica war eine Meisterin im Ausgrenzen; sie verstand es wahrhaft prächtig, jemandem unauffällig die kalte Schulter zu zeigen. Außer dem nicht mehr Angesprochenen bekam niemand etwas mit. Aoife dagegen tat das genaue Gegenteil, sie suchte den Blick ihrer Schwester und wenn auch nur, um festzustellen, dass sie immer noch ignoriert wurde.
Nach etwa einer Stunde hatte Aoife genug. Wie konnte Monica sie so behandeln? Sie, Aoife, war doch nicht die Betrügerin. Sie hatte nichts Schlimmes getan, und Monica hatte auch nichts von ihr zu befürchten. Aoife würde niemandem etwas sagen, und Monica sollte das wissen. Was die Leute aus ihrem Leben machten, war ihre Sache, lautete ihre Devise. Ebenso klar war aber auch, dass irgendeiner das Schweigen brechen musste. Als Monica also in die Küche ging, um einmal mehr den Wasserkessel aufzusetzen, folgte ihr Aoife unauffällig. Monica saß in der Falle, in der Küche konnte sie ihr nicht mehr ausweichen.
»Hör mal«, sagte sie zu Monica, die vor ihr am Herd stand und ihr den Rücken zugewandt hatte. »Ich wollte dir sagen, dass ich dir keine …«
Plötzlich fuhr Monica herum und sagte, rot im Gesicht, aber so beiläufig, wie es irgend möglich war: »Habe ich dir schon erzählt, was du Mammy schon im Mutterleib angetan hast?«
Damit hätte Aoife jetzt am allerwenigsten gerechnet. Allerdings war es die typische Monica-Taktik, bei Gefahr sofort von sich abzulenken und die Schuld auf andere zu schieben. Trotzdem traf sie der Vorwurf so hart, dass sie zurückwich und an der kühlen Tischplatte Halt suchte.
»Was soll das heißen?«, sagte Aoife, obwohl sie das so genau gar nicht wissen wollte. Sie wollte auch nichts von dem hören, mit dem sie Monica mit unterdrückter Stimme nun zuschüttete. Dass es ihre, Aoifes, Schuld sei, wenn Gretta all die Tranquilizer nehmen musste, denn mit ihrer Geburt hatte alles angefangen. Ob ihr klar sei, was sie für ein Alptraum-Baby gewesen sei mit ihrem Dauergeschrei. Das habe auch letztlich ihre Mutter so kaputtgemacht, mehr noch, an den Rand des Wahnsinns getrieben, in die Knie gezwungen. In die Knie gezwungen, das sagte Monica mehrmals. Aoife wollte das alles gar nicht glauben, vielleicht glaubte sie es ja auch wirklich nicht. Vielleicht waren diese Geschichten alle erlogen, weil sich Monica, in die Enge getrieben, nicht anders zu helfen wusste, als blind auszuteilen.
»Wenn du mir nicht glaubst«, sagte Monica, »dann frag ihn«, sagte sie mit einer Geste auf Michael Francis, der inzwischen ebenfalls in der Küche stand.
Sie beide sahen Michael Francis an, der aus einer anderen Unterhaltung im Wohnzimmer ein Lächeln mitgebracht hatte. Aoife war erleichtert,
Weitere Kostenlose Bücher