Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
Bücherei.
»Also das glaube ich jetzt nicht«, sagt Michael Francis und lässt die Arme hängen.
»Ich schon.«
Monica nimmt sofort die Verfolgung auf. Aoife ist schon auf der Straße. Michael Francis holt sie als Erster ein und sagt: »Du kannst doch keine Bücher klauen, Aoife.«
Doch Aoife lässt sich nicht aufhalten und sagt nur: »Von Klauen kann keine Rede sein.«
Darauf Monica: »Also für mich sah das verdächtig nach Klauen aus.«
Und Michael Francis: »Monica hat recht, Aoife.«
Aoife sagt: »Entspann dich, Alter, ich leihe es mir nur aus. Ich habe bloß keinen Bibliotheksausweis. Morgen bringe ich es zurück.«
Worauf Michael Francis sagt: »Wozu brauchst du das Buch überhaupt?«
Monica hat die Antwort schon parat: »Das ist genau die gedankenlose, egoistische Art, die ich an ihr schon immer so …« Sie kommt aber nicht weiter, weil Aoife plötzlich ihren Arm packt.
»O Gott, bitte nicht! Ist das nicht Joe?«
Es ist Joe. Er geht die Blackstock Road entlang und hat eine Hand tief in die Gesäßtasche seiner Begleiterin geschoben. Die Frau schiebt einen Kinderwagen, und er beugt sich zu ihr, weil er ihr zuhört. Und dabei lächelt er, und es geht ihm offenbar ganz wunderbar. Als hätte er sich in der Wohnung im ersten Stock nie die Augen aus dem Kopf geheult und dabei ganz entsetzliche animalische Laute von sich gegeben, weil noch nie etwas im Leben ihn so verletzt hat, angeblich. Als hätte er nie einer Frau ins Gesicht geschrien: Du widerst mich an, für mich bist du kein Mensch mehr, von so etwas wie dir kann einem nur schlecht werden. Als hätte er nie mit derselben Frau vor dem Altar gestanden und gelobt, sie zu lieben und zu ehren in guten wie in schlechten Tagen. Als hätte er nachts nie mit ihr unter der Laterne gestanden und gesagt: Du bist alles für mich, ohne dich kann ich nicht leben. Und jetzt kann er sehr wohl ohne sie leben, prima sogar, und spaziert durch die Sonne und hat die Hand am Arsch einer anderen! Das Einzige, das gleich geblieben ist, ist das alte Karohemd. Aber die Frau mit dem Kinderwagen ist neu, und sehr wahrscheinlich befindet sich in dem Kinderwagen auch das passende Baby.
Michael Francis denkt weniger kompliziert. Er denkt nur: Ach du Scheiße! Und Aoife denkt: Ist das nicht die Frau mit dem Kinderwagen von vorhin? Und war sie nicht damals an ihrer Schule, ein paar Klassen über ihr? Belinda Greenwell oder so. Monica hingegen denkt jetzt gar nichts mehr, in ihrem Kopf herrscht reine Panik und nacktes Unverständnis. Sie versteht nicht, wie so etwas passieren konnte. Sie versteht nicht, warum so etwas überhaupt sein darf. Sie will irgendetwas sagen, egal zu wem: Das könnt ihr mit mir nicht machen, nicht jetzt, nicht nach allem, was passiert ist, bitte!
Da greift Aoife ein. Sie reißt die nächste Ladentür auf und verschwindet mit Monica von der Bildfläche. Michael Francis folgt. Plötzlich stehen all drei in einem Blumenladen und blicken hinter der Auslage nach draußen. Noch Jahre später wird der Geruch von Blumenerde und Jasmin Monica an den Moment erinnern, in dem ihr erster Mann Arm in Arm mit einer anderen an ihr vorbeispazierte, vor sich, wie eine Trophäe, einen dunkelblauen Kinderwagen mit einer gewickelten Insektenpuppe als Inhalt. Monica duckt sich hinter einen Nelkenstrauß und kann doch nicht wegsehen. Bis die Musterfamilie weitergezogen ist.
»Das war knapp.« Michael Francis holt tief Luft.
»Ich habe gar nicht gewusst, dass er wieder geheiratet hat«, murmelt Aoife und stellt sich auf die Zehenspitzen, um ihnen nachzublicken.
Monica schließt die Augen. Sie macht sich von Aoife frei, denn die stützt immer noch ihren Arm, als drohe sie jeden Moment umzukippen. Doch so schnell vergisst Monica die Vergangenheit nicht.
»Ach wirklich?«, sagt Monica. »Ich dachte immer, du und er, ihr wärt so dicke Freunde.«
Gretta geht durchs Haus. Sie sollte allmählich aufräumen. Im Wohnzimmer stapeln sich Teller und Tassen, und überall liegen Krümel und schmutzige Servietten. Sie muss die Kissen aufschütteln und die Vorhänge zuziehen, damit die Sonne ihren schönen Dreisitzer nicht ausbleicht. Das Spülwasser vom Frühstück hat sie wohlweislich noch nicht ablaufen lassen, sie ist doch kein Wasserverschwender.
Eigentlich müsste sie jetzt anfangen. Stattdessen wandert sie durchs Haus, geht in jedes Zimmer, sieht überall nach, streicht mit der Hand über das lackierte Treppengeländer, betastet jede Stuhllehne und untersucht die sich
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