Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
warum?«, fragt er und blickt in den Aufzugschacht.
»Warum was?«
»Warum meinst du, dass dabei nichts herauskommt.«
»Es ist nur ein Fetzen Papier«, sagt sie und sieht den Zettel an, den Michael Francis ihr auf dem Weg gezeigt hat. »Es ist bloß ein Stück von einem Brief. Warum sollte es irgendwas bedeuten?«
»Mum sagt, sie kennt die Handschrift nicht. Sie weiß auch nicht, woher der Brief sein könnte. Aber guck doch mal, hier … das klingt ganz schön apokalyptisch.«
Monica lässt jede einzelne Silbe des Wortes auf sich wirken.
Ihr Bruder schaut sie an. »Unheilschwanger«, beeilt er sich zu erklären. »Wie in …«
»Danke, ich weiß, was apokalyptisch bedeutet.«
»Ich meine ja nur.«
»Und was machen wir jetzt hier?«
»Als Erstes suchen wir Aoife.« Er nähert sich der Tür zum Lesesaal und sieht durch das Fenster. »Wir müssen mal über ein paar Dinge reden. Aber ohne dass Mum es mitkriegt.«
Monica runzelt die Stirn. »Wieso?«
»Weil wir ab jetzt planvoll vorgehen sollten, das hast du selbst gesagt.«
»Aber warum darf Mum nichts davon wissen?«
»Weil sie …« Michael Francis spart sich den Rest und sieht weiter durch das Türfenster, hinter dem sich die Menschen so langsam bewegen wie Fische in einem Aquarium.
Monica seufzt und wischt sich den Schweiß von der Stirn. »Wahrscheinlich ist Aoife gar nicht hier.«
»Sie hat aber so etwas gesagt.«
»Das heißt bei Aoife noch gar nichts, das weißt du.«
»In diesem Fall aber schon«, sagt Michael Francis und klopft gegen die Tür. »Da ist sie.«
Monica tritt ebenfalls an die Scheibe heran. Einen Moment lang sieht sie Aoife wie mit fremden Augen und bemerkt wieder, wie attraktiv sie ist in ihrer engen, veilchenblauen Jeans und dem wild gemusterten Top mit dem weiten Ausschnitt, der immer wieder den Blick auf ihr Schlüsselbein freigibt. Sie hat das Haar nach hinten gebunden, aber nicht sehr sorgfältig. Wer hätte gedacht, dass aus einem definitiv unsüßen Kind mit ständiger Wutgrimasse, das über seine eigenen Füße fällt, einmal eine solche Schönheit wird? Monica erinnert sich, wie sie mit Aoife nach der Schule immer in die Bücherei gehen musste. »Unternimm etwas mit ihr«, sagte Gretta immer. »Ich muss mich ausruhen.« Aoife konnte einen nämlich mit ihren Fragen löchern. Warum kreist die Erde immer nur in eine Richtung um die Sonne? Was ist hinter dem Himmel? Woher weißt du das? Wer hat das gesagt? Was ist die größte Stadt der Welt? Und was die kleinste? Gretta sagte immer, zehn Minuten mit Aoife, und man hat Kopfschmerzen. Obwohl sie jahrelang nicht lesen lernen wollte, war Aoife immer gern in der Bücherei. In der Bücherei wurde sie ruhig. Und Bücher waren für sie das, was sie daraus machte. Sie ging an den Regalen entlang und strich dabei mit der Hand über die Buchrücken, Regal für Regal. Irgendwann blieb sie stehen und flüsterte: »Ah, hier ist eines, das ich noch nicht gelesen habe.« Das nahm sie, setzte sich auf einen Stuhl, blätterte sämtliche Seiten durch und sah sich die Bilder an. Daraus bastelte sie sich dann ihre eigene Geschichte, bis Monica sagte: »Komm, gehen wir nach Hause.«
Jetzt sieht Monica die erwachsene Aoife durch die Buchreihen streifen, wobei sich das Top bei jedem Schritt leicht bläht. Nicht gerade etwas, das Monica selber anziehen würde, aber Aoife steht so etwas. Aoife hat soeben einen lexikon dicken Wälzer in die Hand genommen und – Monica und Michael Francis trauen ihren Augen nicht – tut nun etwas, das sie für unmöglich gehalten hätten, wären sie nicht Zeuge davon geworden. Aoife lässt das Buch (American Photography, wie Monica erkennen kann) in ihrer Umhängetasche verschwinden. Sie sackt es einfach ein, ohne vorher zur Ausleihe zu gehen, zieht den Reißverschluss zu und begibt sich unverzüglich und mit leicht gesenktem Kopf zum Ausgang, wo Monica und Michael Francis stehen.
»Sie will doch nicht etwa …«
»Doch, genau das will sie«, flüstert Monica.
Dann kommt sie aus der Tür, sieht ihre Geschwister, und dieser Anblick bringt sie erst einmal aus dem Konzept. Trotzdem besitzt sie noch die Dreistigkeit zu fragen: »Was wollt ihr denn hier?«
»Nach dir sehen«, sagt Michael Francis.
»Hast du das Buch gerade geklaut?«, blafft Monica und merkt erst dann, dass es die ersten Worte sind, die sie seit drei Jahren mit ihrer Schwester gesprochen hat. »Du bringst es auf der Stelle zurück.«
Aoife schnaubt, geht wortlos an ihnen vorbei und verlässt die
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