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Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Titel: Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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seine Lage, hatte der Polizist gesagt. Und dann fragen Sie sich: Wohin würde ich an seiner Stelle gehen? Wohlgemerkt, an seiner Stelle. Kriechen Sie in seinen Kopf! Wobei er sich kurz an den Scheitel fasste, wie um anzudeuten, welche Körperstelle gemeint war. Doch in Wahrheit kann sich Gretta so wenig in seine Lage versetzen wie in die Lage der Queen. Und das, obwohl sie seit dreißig Jahren zusammenleben und seit einiger Zeit sogar jeden wachen Augenblick gemeinsam verbringen. Es stimmt zwar, Robert war immer an ihrer Seite, ein Muster an Verlässlichkeit und Beständigkeit, dennoch hat sie nicht die geringste Ahnung, was sich hinter seinen Brillengläsern abspielt und welche Gedanken unter seinem dichten weißen Haarschopf ausgebrütet werden.
    Als sie ihn damals kennenlernte, sagte sie zu den anderen Mädels bei der Arbeit, er sei eher der stille Typ, ein ernsthafter Mensch, der nicht viel redete. Gerade auf die muss man besonders aufpassen, sagte ein Mädchen aus Kerry. Und Gretta lachte, denn sie vertraute darauf, dass er noch auftauen würde, schließlich war das ja immer so. Die Leute gewöhnten sich aneinander, verloren ihre Hemmungen, kamen aus ihrem Schneckenhaus.
    Wie all die anderen Mädchen im Wohnheim arbeitete sie in einem großen Traditionscafé in Islington, dem Angel Café Restaurant – was zumindest schon mal ein wunderschöner Name war. Sie hatte die Anzeige gesehen, als sie in der Küche Zeitungspapier in nasse Stiefel stopfte. »Bedienung / Büfettkraft gesucht für das Angel Café Restaurant, London. Branchenübliche Entlohnung bei freier Kost und Logis. Bewerbungen nur schriftlich.« Die Anzeige hatte sie laut ihrer Mutter vorgelesen. Hör doch mal, Mammy. Das Angel Café Restaurant. Das klingt, als kämen da höhere Wesen zum Tee angeflogen. Ihre Mutter sagte nichts dazu, sondern knallte nur die Ofentür zu und wischte sich die Hände an der Schürze ab. Sie wollte nicht, dass Gretta nach England ging, aber sie ging trotzdem, erst mal nur für ein paar Monate, wie sie sagte, nur bis Weihnachten, nur bis Ostern oder maximal bis zum Sommer. Doch dann ging sie eines Abends mit einem anderen Mädchen ins Kino, und der Mann vor ihnen in der Schlange drehte sich um, lüpfte den Hut und fragte, ob sie aus Irland käme – wegen des Akzents. Und sie sagte: Wer will das wissen? Und er sagte, seine Mutter käme aus Irland und dass er in Irland geboren, aber schon als kleines Kind nach England gekommen sei und seinen Namen geändert habe, von Ronan zu Robert, denn man musste sich ja anpassen. Und sie sagte: Na, sieh mal einer guck!
    Er sei Kassierer bei einer Bank, sagte er bei ihrem zweiten Treffen, mit Zahlen könne er. Er kam immer ins Angel Café und wartete, bis ihre Schicht zu Ende war, bestellte bei dieser Gelegenheit Unmengen Tassen Tee und beobachtete fasziniert, wie sie mit hoch erhobenem Tablett durch den Saal schwebte.
    Er war gerade aus dem Kriege heimgekehrt. Er war älter als die anderen, mit denen sie schon ausgegangen war, und entsprach dem dunklen irischen Typ, der ihr schon immer gefiel, mit messerscharfem Scheitel. Er besaß diesen Ernst, den die anderen nicht hatten. Die hatten nur eine große Klappe und redeten und machten Blödsinn. Aber bei ihm dauerte es eine Weile, bis ein Lächeln auf seinen Lippen erschien. Dafür verschwand es auch nicht so schnell.
    Er nahm sie mit zum Islington Green, wo sie sich unter einen Baum setzten, ehe sie hinunter zum Kanal gingen. Er schien zu wissen, dass sie nichts gegen einen längeren Spazier gang hatte, er mochte so etwas ja auch. Sie fragte ihn, wo er im Krieg stationiert war, so kurz nach Kriegsende war das immer ein passender Anfang. Doch statt ein paar lustige Schwänke aus Frankreich zu erzählen, starrte er auf den Boden und schwieg. Sie überbrückte die peinliche Situation, indem sie von dem Bauernhof erzählte, wo sie aufgewachsen war, von ihren Brüdern und Schwestern in aller Welt und was sie so taten. Er hörte aufmerksam zu und konnte am Ende des Abends die Reihe ihrer sechs Geschwister herunterbeten, sogar mit Mittelnamen. Dann brachte er sie zurück zum Wohnheim und tatschte sie nicht einmal an. Dabei war sie überzeugt gewesen, dass er spätestens am Kanal versuchen würde, ihr an die Wäsche zu gehen. Nun gut, sie konnte sich wehren. Sie war nämlich nicht auf den Mund gefallen, Jungs abschmettern war für sie ein Klacks. Aber nichts, gar nichts, nur eine kurze Berührung im Kreuz, als sie die Treppe zur Straße

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