Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
ablösenden Tapetenränder.
So leer wie jetzt ist das Haus selten. Seit Roberts Pensionierung hat sie das Haus nie mehr für sich allein gehabt, immer ist er da, sitzt im Sessel und raschelt mit Zeitungen oder dackelt ihr von Zimmer zu Zimmer hinterher. Aber diese spezielle Art Leere gefällt ihr: wenn überall noch fremde Sachen herumliegen, die ihr die Gewähr geben, dass deren Besitzer bald zurückkehren. Monicas Jacke am Kleiderbügel. Michael Francis’ Autoschlüssel auf dem Tischchen im Flur, Aoifes Kopftuch an einem Kleiderhaken.
Trotzdem ist sie das Alleinsein eigentlich nicht gewohnt, denn wer in Irland auf dem Land groß geworden ist, mit drei Generationen unter einem Dach, ist praktisch nie allein. Und soweit sie weiß, war ihr Elternhaus auch nie so leer wie ihres jetzt.
Dieses Haus hat verschiedene Phasen durchgemacht, denkt Gretta, als sie nach oben geht, in das rückwärtige Zimmer, das Mädchenzimmer, wie sie es bis heute nennt. Sie streicht Aoifes Daunendecke glatt, schüttelt Monicas Kopfkissen auf. Ob Monica heute hier übernachtet? Schwer zu sagen und noch schwerer, direkt danach zu fragen, denn von Monica kriegt man nie eine klare Antwort. Vielleicht bringt sie es ja hintenrum in Erfahrung, sie wird sich etwas einfallen lassen. Wann haben die Mädchen hier eigentlich zuletzt gemeinsam übernachtet? In der Nacht vor Monicas Hochzeit, glaubt sie. Aoife war acht, so alt wie Hughie heute. Ob Aoife danach ihre Schwester vermisst hat, vielleicht nicht schlafen konnte?
Wenn Gretta die Augen schließt, sieht sie das alte Mädchenzimmer vor sich. Die Wände rund um Monicas Bett tapeziert mit Postern, Bildern von Brautkleidern, ihren eigenen Zeichnungen von Wölfen, Füchsen und endlosen Himmelsleitern.
Für Gretta bevölkern Geister das Haus. Wenn sie in den Garten blickt, sieht sie im ersten Moment immer das alte Klettergerüst, von dem Michael Francis einmal herunterfiel und sich einen Schneidezahn ausschlug. Und wenn sie jetzt nach unten ginge, hingen die Kleiderhaken im Flur voller Schultaschen und Turnbeutel, auch die Rugby-Ausrüstung von Michael Francis wäre wieder da. Und gleich hinter der Ecke, vor dem oberen Treppenabsatz, läge ihr Sohn auf dem Boden und läse ein Comicheft oder Baby Aoife versuchte, die Treppe hinaufzukrabbeln, weil sie unbedingt zu den anderen will. Monica wäre wieder in der Küche und würde lernen, wie man Rührei macht. Für Gretta hallt immer noch Kindergeschrei durch die Luft, all die schönen und schmerzhaften Momente, die Streiterei. Sie kann immer noch nicht glauben, dass diese Zeit endgültig vorbei sein soll. Für Gretta ist sie nicht abgehakt und vorbei, all diese Dinge geschehen weiter, für immer und ewig. Jeder Stein, jeder Krümel Zement oder Putz an diesem Haus ist getränkt mit dem Leben ihrer Kinder. Sie kann immer noch nicht fassen, dass sie weg sind. Und jetzt wieder da.
Doch was Robert betrifft, weigert sie sich, überhaupt irgendetwas zu denken. Seine Abwesenheit geht buchstäblich über ihren Verstand. Sie ist so daran gewöhnt, ihn um sich zu haben, dass sie sein Verschwinden schlicht nicht akzeptiert. Das geht so weit, dass sie am Morgen sogar mit ihm reden wollte, und nicht umsonst hat sie zum Frühstück zwei Tassen auf den Tisch gestellt. Sie sind jetzt so lange zusammen, dass man nicht mehr von zwei Einzelpersonen sprechen kann, sondern einem eigenartigen, vierbeinigen Mischwesen. Für sie bestand ein Großteil ihrer Ehe aus Reden. Sie redet gerne, und er hört gerne zu. Ohne ihn fehlt ihr der Adressat für ihre Bemerkungen, Beobachtungen und Kommentare zum Dasein an sich. Allmählich füllt sich ihr Kopf mit Dingen, die rausmüssen, aber nicht mehr rauskönnen. Ein Beispiel: So ein komisches Baby wie heute beim Schlachter habe ich ja noch nie gesehen. Oder: Hast du schon mitgekriegt, dass sie am Ausgang von der U-Bahn jetzt einen neuen Kontrolleur haben. Oder: Weißt du noch, der Frisör, zu dem Bridie einmal ging. Ihr Kopf schmerzt von so viel Ungesagtem, Ungehörtem.
Im Schlafzimmer verharrt sie an dem Stuhl, der neben dem Bett steht. Über der Lehne hängt ein Tweedjackett, natürlich viel zu warm für dieses Wetter. Sie fasst an den Kragen, der sich in der Sonne erwärmt hat, lässt ihre Finger über das seidige Futter gleiten und greift in die Innentasche. Darin Kleingeld, eine Büroklammer, ein abgerissener Fahrschein, sonst nichts. Vor allem nichts, was sie nicht in der Tasche ihres Mannes erwarten würde.
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