Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
Michael Francis wissen.
»Sie ist …« Aoife hebt hilflos die Hände. »Sie hat wieder einen ihrer Anfälle. Jedenfalls verhielt sie sich plötzlich sehr eigenartig, hat dann ein paar Pillen eingeworfen und sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Da wir gerade davon sprechen, ist euch mal aufgefallen, wie viele Medikamente sie gebunkert hat?«
Die anderen ignorieren das. »Hat sie noch etwas gesagt?«, fragt Monica. »Irgendetwas?«
Aoife denkt angestrengt nach. Sie hat ihre Mutter ins Haus gebracht und dann nach oben bis zur Schlafzimmertür. Weiter durfte sie nicht mitkommen. Gretta verschwand dann allein in ihrem Zimmer und sagte nur, sie müsse sich hinlegen. Aoife bekam aber ziemlich genau mit, dass sie das nicht tat, sondern ruhelos auf und ab ging.
»Nein«, sagt Aoife. »Aber da ist noch etwas, das merke ich. Irgendetwas, das sie uns verschweigt. Daher wahrscheinlich auch das Kopfschmerz-Drama …«
»Kenne ich. Sie lenkt ab.«, sagt Michael Francis. »Das dient ihr schon immer als Vorwand …«
»Wie könnt ihr so etwas sagen«, sagt Monica und stellt den Teebecher hin. »Ihr wisst, sie hat Bluthochdruck, da finde ich es ziemlich dreist zu behaupten, sie spielt uns das alles nur vor.«
»Kennt irgendwer von euch einen Frankie?«, unterbricht Aoife. »Sie machte da so eine Bemerkung: Warum habe ich nicht an Frankie gedacht? Aber wer das sein sollte, wollte sie nicht sagen.«
»Frankie«, sagt Michael Francis, »war Dads Bruder.«
Aoife schaut erst ihn, dann ihre Schwester an, dann wieder ihren Bruder. »Was?«
»Sein Bruder.«
»Er hat keinen Bruder.«
»Doch, hat er. Oder hatte er zumindest. Er ist in den Unruhen ums Leben gekommen, aber schon vor einer halben Ewigkeit. Bevor wir geboren wurden. Das wusstest du doch, oder?«
Aoife kann jetzt nichts sagen. Sie hält den Atem an, damit ihre Wut nicht herauskann. Wut weniger darüber, dass ihr Vater sich vom Acker gemacht und die ganze Familie im Stich gelassen hat, auch nicht darüber, dass er offenbar noch einen Bruder hatte. Vielmehr ist sie wütend über ihre Geschwister, weil sie ihr nie davon erzählt haben. Ihr Vater hatte einen Bruder? Der Gedanke ist absurd, lächerlich. Aber warum durfte sie davon nichts wissen? Warum schließt man sie immer aus?
Mit einer Mischung aus Mitleid und natürlicher Überlegenheit sehen ihre Geschwister sie an. Abermals ist sie der Trottel unter lauter Wissenden. Wie damals, mit fünf, als sie von ihrer Mutter wissen wollte, wie die kleinen Kätzchen in den Bauch der Katze kommen, und sie von ihren Geschwistern nur schallendes Gelächter erntete und nur sie, Aoife, nicht wusste, was daran eigentlich so komisch war. Bei anderen Sachen lief es ähnlich. Beispielsweise, als sie sie fragte, ob es noch Morgen oder etwa schon Nachmittag sei. Ob das, was sie gerade gegessen hatte, das Mittagessen war. Aus den Blicken, die sie ihr heute zuwarfen, sprach dasselbe Mitleid wie damals. Es war die Nachsicht derer, die auf einem Olymp des Wissens saßen, der für sie, Aoife, gesperrt war. Diesen Vorsprung konnte sie im Leben nicht aufholen, wie sehr sie sich auch bemühte.
»Aber das wusstest du doch«, sagt Monica und setzt sich neben Michael Francis.
»Wusste ich nicht.«
»Das kann nicht sein.« Monica lässt Süßstoff in ihren Tee fallen.
»Glaub ich auch nicht«, sekundiert Michael Francis trotz sichtlicher Zweifel. »Das kann eigentlich nicht sein«, sagt er exklusiv zu Monica.
Neugierig schauen sie ihre Schwester an. Aoife spürt ein allergisches Prickeln unter der Haut, wie von Wolle oder Blü tenstaub. Allerdings muss Monica einräumen, dass in der Familie selten bis gar nicht darüber gesprochen wurde, vielleicht hat Aoife es deswegen nicht mitbekommen. Oder der tote Onkel war nach Aoifes Geburt einfach kein Thema mehr, so lange, wie die Sache schon zurücklag.
Ein Mädchen erscheint in der Tür, und sie verstummen. Es ist nackt bis auf ein Paar Gummistiefel im Ringelsöckchen-Design, die es dazu seitenverkehrt trägt, wie Aoife bemerkt. Sie zieht einen einäugigen Tiger am Schwanz hinter sich her. »Wer bist du?«, fragt das Mädchen und deutet auf Aoife.
»Aoife Magdalena Riordan«, sagt Aoife und zeigt auf sich selbst. »Und wer bist du?«
»Vita Clarissa Riordan.«
Einen Moment lang mustern sie sich. Der Tiger dreht sich lotrecht in der Luft und guckt sich den Boden an.
»Warum haben wir den gleichen Namen?«, fragt Vita.
»Weil wir verwandt sind. Ich bin die Schwester von deinem Daddy.«
Vita
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