Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
verzieht das Gesicht. »Aber das ist Daddys Schwester«, sagt sie und zeigt auf Monica.
»Ich bin die andere.«
Unschlüssig tritt Vita näher und bleibt vor dem Tisch stehen. Sie legt den Tiger direkt vor Aoife auf den Tisch, sodass Aoife von einem einzelnen Auge angeblickt wird.
»Was ist denn mit dem Auge von dem Tiger passiert?«
»Hab es rausgerissen.«
»Oh.«
»Mit meinen Zähnen.«
»Und wieso?«
»Es gefiel mir nicht mehr.«
»Okay, das ist verständlich.«
Vita legt ihren Kopf seitlich auf den Tisch. »Was heißt nicht alle Tassen im Schrank?«
Aoife beugt sich nach vorn. »Wie war das?«
»Oma sagt …«
Michael Francis sieht von seinen Cornflakes hoch. »Vita!«
»Oma sagt was?«
»Oma sagt, du hast nicht alle Tassen im Schrank.«
»Ach wirklich? Interessant. U nd was sagt Oma noch von mir?«
»Sie sagt, aus dir ist nichts geworden …«
»Vita«, sagt Michael. »Es reicht jetzt.«
»Soll ich dir was erzählen, Vita?«
»Was?«
»Weißt du, wie das ist, wenn man nicht alle Tassen im Schrank hat. Es ist klasse, es ist einsame Spitze, es ist …«
»Aoife«, sagt Michael Francis. »Das gilt auch für dich.« Er reibt sich die Augen. »Guter Gott!«, sagt er durch seine Finger.
Vita und Aoife sehen ihn an, und Vita äfft ihn nach. »Guter Gott!«, ächzt sie mit Vergnügen.
»Lass das Oma bloß nicht hören«, sagt Aoife.
Dann fragt Monica: »Sag mal, hast du noch diesen Zettel?«
»Welchen Zettel?«, fragt Aoife.
Michael Francis sagt: »Ja, hab ich noch.« Er wühlt in seiner Tasche.
»Welchen Zettel?«, fragt Aoife erneut. »Warum erfahre ich erst jetzt davon?«
Michael Francis reicht ihr das Blatt Papier und sagt: »… und sie sagen auch, das Ende ist nah.«
Aoife sagt: »Warum habt ihr mir nichts davon erzählt?«
Da fasst Vita ihren Arm an und sagt: »Mir haben sie auch nichts gesagt.«
Anschließend streiten sie sich über die Frage, ob sie Gretta herholen sollen oder ob sie besser wieder in die Gillerton Road fahren. Michael Francis ist der Meinung, dass endlich Klartext geredet werden muss, am besten im Rahmen einer Familienkonferenz. Monica denkt: Das hat er garantiert aus der Schule. Aber wenn sie zu Gretta wollen, wie kommen sie hin? Mit Bus oder Bahn oder Auto? Und wollen sie wirklich alle zusammen in der Gillerton Road einfallen? Ist im Auto genug Platz? Sollen sie Gretta nicht lieber schlafen lassen und bis zum Nachmittag warten?
Monica steht im Garten ihres Bruders und hört, wie sie in der Küche immer noch debattieren, sogar Claire und Vita schalten sich gelegentlich ein. Mit ihren nackten Zehen berührt sie den Trockenriss mitten auf der gelben Wiese. Es sieht aus, als habe hier der Blitz eingeschlagen.
»Wir haben darin schon sieben Autos verloren«, sagt eine Stimme rechts von ihr. Es ist ihr Neffe. Er trägt nur eine Schlafanzughose, und seine Haare sind noch schlafzerzaust. Wie zart so eine Kinderbrust ist, denkt sie, wie zerbrechlich die Rippen unter der weißen Haut. Mit dem Gleichmut eines Uhrwerks isst er die Cornflakes aus seiner Schale.
»Mir ist mal ein Auto in die Spalte gefallen«, sagt er kauend. »Aber Vita hat schon sechs versenkt, mit voller Absicht.«
»Oh«, sagte sie. »Das ist aber nicht so schön.«
Er stellt die Müslischale weg und späht auf allen vieren in die Tiefe. »Sechs, echt«, murmelt er. »Mammy sagt, wenn sie das noch einmal tut, gibt es für sie am Samstag keine Süßigkeiten.«
»Glaubst du, man kann sie irgendwie zurückholen?«
»Die Süßigkeiten?«
»Nein, die Autos.«
Monica blickt jetzt ebenfalls in die Erdspalte. »Ich weiß nicht«, sagt sie. »Vielleicht könnte man …«
»Lieber nicht. Vita hat gesagt, sie hat sie da hineingeworfen, weil sie sehen will, ob die Teufel sie wieder herausfahren.«
Monica führt sich dieses Szenario vor Augen. Man drückt Spielzeugautos in eine Erdspalte, und die Teufel unter der Erde fahren in ihnen heraus. Das ist natürlich reiner Unsinn, denkt sie.
Hughie scheint das zu spüren, denn er sieht sie an. Erneut ist sie fasziniert von dieser makellosen, beinahe durchsichtigen Kinderhaut mit dem zartblauen Geäder.
»Oma sagt, in der Erde wohnen die Teufel«, erklärt er. »Deshalb hat Vita gedacht, wenn sie Autos hineinstopft, kommen die Teufel mit den Autos heraus. Vita sagt, sie will sie nur einmal sehen.«
Monica verdrängt die Vorstellung von kleinen roten Monstern, die auf einmal überall aus dem Boden schwärmen.
»Glaubst du das auch?«, fragt Hughie.
»Was
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