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Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Titel: Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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den unmöglichsten Zeiten an, auch um sechs Uhr morgens. Die kennen da nichts.
    Aoife schwankt in die Küche, sucht nach etwas zu essen. Auf dem Tisch steht eine Schachtel Haferflocken, daneben die Porridgeschale ihrer Mutter mit einem in Milch versoffenen Löffel. Das Brot auf der Anrichte sieht vertrocknet aus, die Längsspalte ist eingesunken. Aoife geht zur Spüle und trinkt Wasser direkt aus dem Hahn. Als sie sich mit einem Apfel aus dem Obstkorb an den Tisch setzt, bemerkt sie, dass ihre Mutter in der Tür steht, die Hände in den Taschen ihres Morgenmantels vergraben.
    »Was ist?«, fragt Aoife.
    Der verschwommene Blick ihrer Mutter.
    »He, was ist los?«
    Aoife steht auf, ergreift ihre Hände und lotst ihre Mutter zu einem Stuhl. »Wer war denn am Telefon?«
    »Mary«, flüstert Gretta.
    Aha, Mary. Verwandte, Bekannte, Nachbarin? Oder gleich unsere gebenedeite Jungfrau und Gottesmutter Maria?
    »Dermots Frau«, flüstert Gretta.
    Dadurch ist Aoife zwar auch nicht schlauer, trotzdem sagt sie: »Ah.«
    Gretta schlägt die Hände vors Gesicht. »Hol mir meine Tabletten, bitte, sei so lieb. Ich habe schreckliche Kopfschmerzen.«
    Aoife geht an Mutters Drogendepot, untergebracht in einem Küchenschrank und bestückt mit über zwei Dutzend Medikamenten in den unterschiedlichsten Packungsgrößen. Aoife greift aufs Geratewohl zwei Fläschchen heraus, schaut auf das Etikett, stellt sie wieder weg, nimmt zwei andere. »Guter Gott, Mum, wozu brauchst du das ganze Zeug?«
    »Das geht dich gar nichts an. Gib mir nur die … Rosanen.«
    »Nein, im Ernst, was willst du mit all den Pillen? Wer verschreibt solche Unmengen?«
    »Aoife, bitte!« Gretta fasst sich an den Kopf. »Gib mir meine Tabletten.«
    Nacheinander holt Aoife sämtliche Medikamente aus dem Schrank und reiht sie auf der Anrichte aus. »Weiß dein Arzt davon? Mum, hier lagert so viel Valium, damit könntest du einen ganzen Pferdestall einschläfern.«
    »Monica sagt …«
    »Ach so, Monica sagt!« Aoife knallt ein mit P beginnendes Fläschchen auf die Arbeitsfläche.
    »Ein bisschen Valium könnte Monica selbst nicht schaden«, murmelt sie. »Geh mir weg mit Monica.«
    Gretta wankt zur Anrichte, schnappt sich ein Fläschchen, gibt zwei Tabletten in die Hand und schluckt sie ohne Wasser. Dann dreht sie sich zu Aoife um. »Sie haben ihn gesehen«, sagt sie.
    Aoife fährt herum. »Gesehen, wen?«
    »Deinen Vater.«
    Aoife sieht ihrer Mutter ins Gesicht. Sie wirkt so seltsam mit ihren irrlichternden Augen und der pergamentweißen Haut. »Wer hat ihn gesehen?«, fragt sie und rechnet mit irgendwelchen Feen oder Trollen. Gretta ist nämlich abergläubisch und schwer von diesem Trip abzubringen, wenn sie sich einmal etwas fest einbildet.
    Aber Gretta seufzt nur. »Das sagte ich doch. Dermot und Mary.«
    Aoife will schon zurückstänkern: Und wer zum Teufel sind Dermot und Mary? Aber sie bremst sich. »Wo?«
    Gretta blickt sie an, als gäbe es keine dämlichere Frage. »Na, auf der Straße nach Roundstone.«
    »Roundstone?«
    »Die Frage ist hoffentlich nicht ernst gemeint. Bist du irre?«
    »Überaus ernst«, ätzt Aoife. Ihr reicht es jetzt langsam. »Im Übrigen erfreue ich mich bester geistiger Gesundheit. Also sprich Klartext und sag, was los ist.«
    »Roundstone«, sagt Gretta mit Nachdruck, »Roundstone ist ein Dorf in Connemara. Wenn du mir jemals zugehört hättest, wüsstest du das. Aber du willst mit dieser Familie ja nichts zu tun haben und gehst lieber nach …«
    »Okay, und weiter?«, fragt Aoife. »Was wolltest du sagen?«
    »Ach lass mich!«, winkt Gretta ab und geht durch die Hintertür nach draußen.
    Aoife bleibt in der Küche zurück und ballt mit geschlossenen Augen die Fäuste. Wenn wenigstens Gabe jetzt da wäre, er könnte sie unterstützen. Was gäbe sie jetzt dafür, wenn sie sich an ihn anlehnen könnte. Er würde sie nie so abkanzeln.
    Kurz darauf folgt sie ihrer Mutter nach draußen, wo Gretta unter dem vertrockneten Goldregen steht und still in ihr Taschentuch weint. Aoife weiß, dass sich die dunklen Wolken längst verzogen haben, und nimmt ihre Mutter in den Arm. »Jetzt sag schon.«
    Aoife klingelt zum zweiten Mal bei Michael Francis und will schon den Türklopfer nehmen. Es ist kurz vor acht. Sie ist den ganzen Weg von der Gillerton Road nach Stoke Newington zu Fuß gegangen, hat Briefträger gesehen, Milchmänner, die Müllabfuhr und leere Busse, die durch menschenleere Straßen keuchten. Sie hat gesehen, wie die Sonne ihren Platz

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