Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
Schuhen, unter der Wolldecke, unter der Weihnachtsmorgen-Tagesdecke, schließlich sucht sie auf allen vieren die Umgebung des Bettes ab. Nichts. Aoife setzt sich wieder hin und presst die Hände gegen die Schläfen. Die unauffindbaren Schuhe wachsen sich in ihrem Kopf zur Katastrophe aus. Wo um alles in der Welt können sie nur sein? Es sind eigentlich nur schlichte rote San daletten, aber ihr Verlust verleiht ihnen einen erheblichen Symbolwert.
Natürlich ahnt sie bereits, wie sie weggekommen sind. Sie sieht es geradezu vor sich. Ihre Mutter war hier, hat ihr aber nicht nur die verdammte Decke gebracht, sondern bei der Gelegenheit auch ihre Sandaletten verräumt, denn Verräu men tut sie am liebsten, und das hat Aoife schon früher regelmäßig in den Wahn getrieben, diese manische Aufräumwut. Alles, was in Grettas Augen irgendwie herumliegt, wird gnadenlos verräumt. Wer irgendwo seine Schlüssel hinlegt, tut dies auf eigene Gefahr, denn sie sind schon in der nächsten Sekunde verschwunden. Dasselbe mit Geldbörsen. Und glaube bitte niemand, der Pulli, den man nur kurz über einen Stuhl gehängt hat, sei später noch an derselben Stelle. Er ist es nicht.
Wie durch ein Wunder entdeckt Aoife ihre Sandaletten dann doch. Sie stehen unter der Kommode ihres Vaters. Aoife springt aus dem Bett und zieht sie schnell an, denn wer weiß, ob sie ihr nicht im nächsten Moment wieder abgenommen und verräumt werden.
Sie begibt sich in den Flur und hört das Schnarchen ihrer Mutter im ehemaligen Zimmer von Michael Francis. Sie hat sich wohl dort schlafen gelegt. Bedeutet das, dass Monica im Mädchenzimmer schläft? Sie geht ganz nah an die Tür heran und horcht. Ist Monica im Zimmer? Aoife will an ihr Buch, will wieder Evelyns Fotografien berühren. Aber sie darf Monica nicht wecken, Monica kann richtig böse werden, wenn sie vor der Zeit aus dem Schlaf gerissen wird.
Leise schleicht sie nach unten, obwohl sie nicht weiß, was sie dort soll. Der Morgen graut gerade, und alle schlafen noch. Ihr Buch befindet sich bei ihrer Schwester. Sie aber fühlt sich so eigentümlich wach, als begänne gleich ihre Schicht im Club.
Im Wohnzimmer erwartet sie – Schock! –- der offene Schreibtisch ihres Vaters, und alle seine Sachen liegen verstreut auf dem Boden. Sie hat diesen Schreibtisch tatsächlich noch nie offen gesehen und erst recht nicht so geplündert. Ob das Monicas Werk ist, fragt sie sich, und was Gretta wohl dazu gesagt hat? Bei dieser Auseinandersetzung wäre sie gern dabei gewesen. Sehr wahrscheinlich hat Gretta aber gar nichts gesagt, nicht zu Monica. Denn Monica darf alles. Wahr scheinlich hat sie sogar gesagt: Was immer du für richtig hältst, Schatz. Also schmeiß die Sachen deines Vaters ruhig auf den Boden, ich räume hinter dir auf. Das macht sie ja eh am liebsten.
Aoife setzt sich auf den Schreibtischsessel ihres Vaters und streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Schon jetzt ist es brütend heiß. Wie kann es unten heißer sein als oben, wenn warme Luft nach oben steigt?
Ihr Blick fällt auf die auf dem Boden liegenden Dinge: jede Menge Papier, ungültige Pässe mit abgeschnittenen Ecken, Quittungen, Briefe. Ein Schriftstück mit einem Wappen und dem verschnörkelten Motto Unsere Pflicht vor Gott weckt Beklommenheit, denn es stammt von ihrer alten Schule. Den Schriftzug versteht sie, weil er ihnen bei jeder Schulversammlung eingebläut wurde. Vor dem maschinengeschriebenen Text aber kapituliert sie. Sie schmeißt den Schrieb weg.
Sie überlegt, ob sie Kaffee machen und aufräumen soll. Oder lieber in den Garten gehen? Unentschieden legt sie den Kopf auf den Schreibtisch. Die lederbezogene Tischplatte fühlt sich warm und weich an der Backe an und riecht nach Politur, Papier, Tinte. Ihr seitlich gelagerter Kopf verschafft ihr eine völlig neue Perspektive auf das Zimmer, aus diesem Blickwinkel hat sie es nämlich noch nie gesehen. Das denkt sie, aber dann denkt sie nur noch: Mein Gott, muss diese Frau eigentlich immer so laut sein?
Aoife fährt hoch und sieht Lichtstreifen auf dem Teppich. Kann es wahr sein, dass sie schon wieder eingeschlafen ist?
»Ist das die Möglichkeit …«, hört sie ihre Mutter sagen. »Gut, dann … und was hat er gesagt … nie wieder …?«
Gretta spricht mit Irland. Aoife erkennt das daran, dass sie diesen irischen Ton anschlägt. Dieses scharfe S, dieses weiche T hat sie nur, wenn sie mit der Heimat spricht. Es wird einer ihrer zahlreichen Verwandten sein, sie rufen immer zu
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