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Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Titel: Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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die Bedeutung der Bruderliebe. In diesem Moment wurde Grettas Mund trocken, die Zunge klebte ihr am Gaumen, und Aoife lag bleischwer in ihrem Arm. Ihr war sofort klar, dass sie eine Geschichte über ihren Mann zu hören bekam, über den Vater ihrer Kinder, der diese Geschichte selber nie erzählen würde.
    Da stand sie also und dachte an ihr Häuschen in London, an ihre Kinder, Michael Francis, den Intelligenzler der Familie, Monica, die Hübsche, Aoife, ihr Baby. Sie dachte an ihren Garten und die Töpfe mit Kapuzinerkresse, die Erbsen, die sich an den Bambusstäben in die Höhe rankten. All das hätte sie in diesem Moment gern um sich versammelt, denn sie empfand es als bedroht.
    Während sie das dachte, war der Priester schon mittendrin in seiner Erzählung über zwei Brüder namens Robert und Francis, genannt Frankie, die sich sehr nahestanden, weil das Leben sie nach dem Tod des Vaters zusammengeschmiedet hatte. Dazu trug ebenfalls bei, dass die Mutter, um Arbeit als Köchin zu finden, mit ihnen schon früh nach England emigriert war.
    Aber so etwas werden ihre in London geborenen Kinder nie verstehen. Wie hart es in Irland war, weil es keine Arbeit gab, nichts, was man mit seinem Leben anfangen konnte. Und dass deshalb die Postschiffe nach England so brechend voll waren. Voller Menschen, die nur ihr täglich Brot verdienen wollten. Ihre Kinder glauben allen Ernstes, sie hätten es schwer. Pah, nur wegen ein paar Schimpfwörtern und öden Irenwitzen oder weil es Nachbarn gab, die ihren Kindern verboten, mit dreckigen Katholiken zu spielen. Aber sie haben keine Ahnung, wie es früher war, als ihnen noch Verachtung und nackter Hass entgegenschlug. Wie ihre Brüder auf dem Rummel anheuern mussten, wie ihre Schwestern sich als Hausmädchen bei reichen Londoner Familien verdingten – und nie nach Irland zurückkehrten. Wie man nur wegen des irischen Akzents im Bus angespuckt oder aus Cafés rausgeschmissen wurde. Dass man sich im Park nicht einmal auf eine Bank setzen konnte, ohne dass ein Polizist kam, der einen zum Weitergehen aufforderte. Nicht zu reden von den Schildern in so vielen Fenstern, die sagten: »Hier sind Iren nicht erwünscht.« Ihre Kinder hatten keinen Schimmer, wie viel Glück sie hatten.
    Selbst heute noch, vor allem wegen des Nordirlandkonflikts, sind Iren nicht sonderlich beliebt. Woran sich wahrscheinlich nie etwas ändern wird. Es gibt immer noch Geschäfte, in die sie sich nicht hineintraut, Orte, wo sofort getuschelt wird, wo man sie böse anfunkelt. Etwa neulich, als sie nur ein Stück Butter kaufen wollte, und zwar in einem Geschäft, in das sie schon seit Jahren geht. Da haut der Inhaber plötzlich etwas auf den Tresen und sagt: »Raus« – auf solche Kundschaft könne er verzichten. Sie war so verblüfft, dass sie ihn erst einmal nur anstarrte, weil sie ernsthaft dachte, es könne sich nur um ein Versehen handeln, eine Verwechslung, für die er sich gleich entschuldigen würde. Doch dann sah sie, dass seine Hand auf einer Zeitung lag – mit einer Schlagzeile über einen Bombenanschlag der IRA. Natürlich hätte sie sich zur Wehr setzen können, hätte sagen müssen, in ihrer Familie gebe es nur anständige Leute, keine Mörder. Aber sie tat es nicht. Sie ließ die Packung Butter liegen und floh aus dem Laden. Robert sagt, daran sei nur England schuld. England kriegt dich klein. Am Ende traust du dich nie wieder aus der Deckung.
    Jedenfalls, so der Priester weiter in seiner Erzählung über die Riordan-Brüder, jedenfalls passte der ältere immer auf den jüngeren auf, Ronan hieß er. Denn Ronan war eher ein stiller Junge, ein Stubenhocker, im Gegensatz zu Frankie, der sich mit seiner Größe überall Respekt verschaffen konnte. Und dann kam dieses Mädchen nach Liverpool, das aus derselben Ecke in Sligo stammte wie die Riordans. Und weil sich Iren untereinander kennen (und wenn auch nur um hundert Ecken) lud man dieses Mädchen an ihrem freien Tag einmal zum Tee ein.
    Dieses Mädchen sei von Anfang an etwas merkwürdig gewesen, meinte der Priester. Obwohl noch ziemlich jung, höchstens siebzehn oder achtzehn, hatte sie eine hüftlange, silbergraue Mähne. Ein zierliches Persönchen sonst, ein Spatz, ein Mäuschen.
    Gebannt lauschte Gretta dieser Beschreibung und entwarf vor ihrem geistigen Auge ein Bild, das sie von allen Seiten betrachtete. Sie wusste, dass dieses Bild von dem Mädchen mit den Silberhaaren sich wie ein Brautschleier um sie legen und für den Rest ihres Lebens nie

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