Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
wieder von ihr weichen würde. Ein Geist, mit dem sie fortan leben musste.
Der Priester nahm sich noch ein Plätzchen und erzählte, dass sich beide Brüder unsterblich in dieses Mädchen ver liebten. Besser gesagt, sie verliebten sich gemeinsam in sie, warteten auch gemeinsam am Hintereingang des Reichen, bei dem sie arbeitete, um gemeinsam mit ihr zu reden, dem Mädchen mit den Silberhaaren.
»Natürlich sahen alle, welch Unheil sich da zusammenbraute«, sagte der Priester mit einem schiefen Lächeln. »Die Riordan-Mutter kam sogar zu mir und wollte wissen, was sie tun solle. Frankie, der Ältere, klaute schon Blumen aus dem Stadtpark, und Ronan (oder Robert, wie er sich nannte) schenkte dem Mädchen seine Bezugsscheine für Kleidung und Zucker. Was, fragte die arme Frau, was soll man da nur machen?«
Doch am Ende regelte sich alles. Eines Tages kam Robert mit der Mutter zu mir und kündigte an, dass er und Sarah, so ihr Name, das heilige Sakrament der Ehe eingehen wollten. Das Mädchen hatte sich für den Verlässlicheren, weniger Ungestümen der beiden entschieden, und damit hatte die liebe Seele Ruh.
»Ich selbst habe sie getraut«, sagte der Priester und sah ihr direkt in die Augen – oder bildete sie sich das alles nur ein? »Eine schöne Hochzeit war es, an einem prügelheißen Sommertag. Und ein schönes Paar, da gab es nichts.«
Doch noch am selben Tag – die Hochzeitsfeier im Haus der Riordans war noch in vollem Gang – war das Mädchen plötzlich unauffindbar. Die Gäste suchten im ganzen Haus, später auch im Garten, auf der Straße. Wie gesagt, es war Hochsommer, mitten in einer Hitzewelle, und niemand fand nachts Schlaf. Die Feierlichkeiten waren jedenfalls vorbei, und alle fragten nur noch: »Wo ist Sarah?« Bis jemand auf die Idee kam zu fragen: »Und wo ist Frankie?«
»Sie ahnen sicher, wie die Geschichte weitergeht«, sagte der Priester.
Frankie und Sarah waren durchgebrannt. Einige sagten, nach Dublin, andere meinten, nach Sligo. Gleichviel, sie waren noch in ihren Festtagskleidern verschwunden. Einige behaupteten, Sarah sei schwanger, aber von wem, wisse niemand. Aber selbst das wusste keiner so genau.
»Schlimme Sache«, sagte der Priester kauend.
Gretta dachte, die Geschichte sei hiermit zu Ende, und wollte schon weg, denn der Mann war unangenehm. Doch er sprach weiter, wenn auch nicht mehr zu ihr, sondern zu einer anderen Frau. Was Robert alles unternommen hatte, um die beiden zu finden! Wie er nach Dublin gefahren war und die ganze Stadt nach ihnen absuchte. Aber weder dort noch in Sligo hatte sie eine Menschenseele gesehen. Denn trotz allem, was geschehen war, wollte er sein Mädchen zurück. Einen unglücklicheren Mann als diesen Ronan hatte der Priester sein Lebtag nicht gesehen.
Kurz darauf kam der Gestellungsbefehl, und Ronan zog nach Europa in den Krieg. Die Mutter wurde durch eine deutsche Fliegerbombe getötet. Erst Jahre später tauchte Frankie wieder auf, in Ulster, im Gefängnis.
»Im Gefängnis?«, fragte Gretta, denn Robert hatte ihr gesagt, dass sein Bruder bei den Unruhen ums Leben gekommen sei.
»Der ganze Hergang der Tat war etwas undurchsichtig, und deshalb sorgte Frankies Verurteilung auch für weites Aufsehen. Angeblich hatte er bei einem Anschlag in Nordirland einen Polizisten erschossen und wurde dafür verurteilt. Später bekannte sich zwar ein anderer zu der Tat, aber wie es wirklich war, weiß wahrscheinlich nur Gott allein. Nach vielen Jahren wurde Frankie entlassen, doch seine Gesundheit war ruiniert, und das Mädchen, Sarah, sowieso längst weg. Manche sagten, sie sei nach Amerika gegangen. Den bewegendsten Teil der Geschichte habe ich von einem Amtsbruder. Nämlich dass Ronan nach Frankies Entlassung sich immer um seinen kranken Bruder kümmerte, auch wenn sie bis zum heutigen Tag kein Wort mehr gewechselt haben. Er sorgt nämlich für seine Pflege, und ich glaube, darum geht es in dieser Geschichte, sie ist nämlich das Beispiel par excellence für das Gebot der … ah, hallo!« Der Priester wandte sich ab, um jemand anderen zu begrüßen, begann eine Unterhaltung über ein bestimmtes Gebäude in Boston und ließ Gretta einfach stehen. Es dauerte eine Weile, bis sie sich so weit gefangen hatte, dass sie mit Aoife nach draußen gehen konnte, wo es schon dunkel wurde und Schwalbenschwärme in der Luft kreisten, einer unsichtbaren Spur folgend.
Und das, das würden ihre Kinder sowieso nie verstehen. Im Leben nicht.
Monica wartet. Aoife wartet.
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