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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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Schlitzen.
    »Nachts kommt mir alles ganz einleuchtend vor. Aber tagsüber vergesse ich ständig wichtige Dinge. Nachts weiß ich wieder, was ich tun muss und wie ich es tun muss. Tagsüber vergesse ich, was ich mir überlegt, was ich gemacht habe. Nachts schreibe ich, wusstest du das schon?«
    »Wirklich?«, sagt sie.
    »Ich lese viel und schreibe Briefe. Vor allem an meinen Vater. Und in diesen Briefen ist alles so klar. Diese Geste? Unvermeidlich. Diese Entscheidung? Die einzig richtige. Morgens lese ich dann, was ich geschrieben habe, und alles kommt mir so fremd vor: die Worte, die Schrift, die Farbe der Tinte.
    Elena hebt den Zeigefinger und grinst: »Schreibst du auch an mich?«
    Das Licht, das die Prometheus-Statue überflutet, bringt ihre Haut zum Strahlen. Gesicht und Hals sehen aus wie mit Silberstaub bedeckt.
    »Dir schreibe ich tagsüber«, sage ich.
    *
    Ohne jede Gehaltserhöhung, ohne jeden Bonus bittet mich die Firma, eine neue Abteilung zu leiten, das Datenerfassungszentrum. Es ist eine Weiterentwicklung der Kostenabteilung. Ich muss in die Labors und Werkstätten gehen und herausfinden, was dort wie produziert wird. Ich muss Daten über die Herstellungskosten, die Arbeit, die Materialien und den Vertrieb sammeln und so die Kosten eines irgendwann in Serie gehenden Produkts ermitteln.
    Ich betrete die Labors und stelle Fragen. Ich betrete die Werkstätten und rede mit den Arbeitern. Aber niemand beachtet mich, niemand antwortet mir. Die Leute rempeln mich an und sehen sich um, als wüssten sie nicht, was passiert ist. Ich mache Termine mit den Forschern, mit den Abteilungsleitern, aber wenn ich komme, sind sie nicht da. Mein Termin steht nicht in ihrem Kalender, oder aber sie haben ihn vergessen.
    »Wer sind Sie?«, fragen sie.
    »Der Leiter der Abteilung Datenerfassung.«
    Sie winken ab. »Später, später. Jetzt ist es gerade schlecht.«
    Der Chef will wissen, wie ich vorankomme. Ich habe nichts zu berichten: Ich habe weder Daten noch Vorschläge. Ich würde ihm gern sagen, dass niemand mit mir reden will, traue mich aber nicht. Genauso gut könnte ich ihm gestehen, ihm die ganze Zeit etwas vorgemacht zu haben: »Gut, ich gebe es zu, ich gebe mich als ein anderer aus, behaupte, Dinge zu denken, die ich nicht denke, Kompetenzen zu besitzen, die ich gar nicht habe. Ich bin ein Betrüger, eine Notlösung.« Ich denke an meinen Vater, den Baum. Daran, wie ich an ihm hochklettere.
    »Alles läuft nach Plan«, erwidere ich lächelnd. »Ja, alles bestens. Aber um die Daten erheben zu können, brauche ich Verstärkung.«
    »Was für Verstärkung?«
    »Arbeiter«.
    »Arbeiter?«
    »Sieben Arbeiter.«
    »Und wozu?«
    »Wer kennt die Materialien und Produktionsmechanismen besser als ein Arbeiter? Niemand. Ich brauche einen Mann pro Werkstatt. Mit ihnen muss ich reden, nicht mit den Forschern. Forscher sind nicht sehr objektiv, sie denken nur an ihre Analyseergebnisse. Der Arbeiter ist da ganz anders, er sieht die Dinge, wie sie sind: die Kosten, die Betriebsorganisation. Ohne Scheuklappen. Er sieht die Wahrheit.«
    Der Abteilungsleiter hört aufmerksam zu. Er schenkt sich etwas zu trinken ein und sagt: »Ich befürchte, das könnte einige Leute nervös machen, Coifmann. Aber von mir aus! Drei Arbeiter, einmal pro Woche, eine halben Tag lang. Aber mehr kann ich nicht für Sie tun.« Er stellt sein Glas auf einen Glastisch, deutet auf mich und fügt noch hinzu: »Ich will Ergebnisse sehen!«
    Ich verlasse das Büro, brauche dringend frische Luft. Ich öffne Kragen und Manschettenknöpfe, lockere die Krawatte. Ich setze mich im Innenhof unter einen Baum. Was habe ich bloß gesagt? Warum habe ich das gesagt? Ich werde nichts zustande bringen. Ich kann das einfach nicht. Warum habe ich insistiert, statt das Feld zu räumen?
    Am nächsten Tag warten die Arbeiter, die mir zur Verfügung gestellt wurden, schon in meinem Büro. Wir reden den ganzen Vormittag. Ich bitte sie, mir jedes Detail ihres Arbeitsalltags zu schildern: ihre Aufgaben, ihre Pausen, ihre Fehlermargen. Ich versuche, das ganze Räderwerk auseinanderzunehmen, um seine Schwachstellen zu enthüllen. Aber mir fällt nichts auf. Vielleicht ist das ein längerer Prozess, denke ich. Vielleicht überstürze ich die Dinge. Ich muss Geduld haben, mir die nötige Zeit nehmen.
    Einer von ihnen nimmt das Wort Ausschussware in den Mund. Ausschussware gefällt mir nicht, hat mir nie gefallen. Ich werfe nie etwas weg.
    »Abfall?«, sage ich.
    »Nein,

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