Der Sommer auf Usedom
abtauchte und dann wieder zu erkennen war.
»Sie meinen den Typen, der da im Gras liegt?«
»Den meine ich«, gab er ernst zurück. Jetzt wirkte er wirklich angespannt, als würde er im nächsten Augenblick aufspringen und losrennen. Und genau das tat er. Der kleine runde Tisch, der zwischen ihnen stand, hatte mit der plötzlichen Bewegung ebenso wenig gerechnet wie Jasmin, die einen spitzen Schrei ausstieß. Der Tisch, der auf dem Rasen ohnehin keinen sehrfesten Halt hatte, wackelte, eine Wasserflasche kippte um, das Mineralwasser verteilte sich zwischen Tellern und Tassen und weichte auch den letzten Rest von Jasmins Mohnschnecke auf. Sie starrte abwechselnd auf das Malheur vor sich, zu dem Mann im Gras und zu Dieter, der dummerweise nicht an das Tablett gedacht hatte, das noch immer vor ihm auf dem Rasen lag. Sie wollte ihn warnen, aber alles spielte sich im Bruchteil einer Sekunde ab, und sie bekam keinen Ton heraus. Dieter dagegen nahm das Hindernis im letzten Moment wahr, sprang mit einem langen Satz darüber weg und rannte in beachtlichem Tempo, wie sie fand, auf das linke Ende des Straßenbahnabteils zu. Das Haarbüschel, das zwischen den langen Halmen kaum noch auszumachen war, befand sich am rechten Ende des Wagens. Einige Leute waren aufmerksam geworden und beobachteten die Szene. Auch Jasmin war wie gebannt. Schon war Dieter hinter dem Fahrzeug verschwunden. Gleich darauf erschien er direkt bei dem Mann. Er stand über ihm und schien auf ihn einzureden. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Der Kuchenrest war hin, das Wasser verschüttet, die Kaffeetassen waren ohnehin längst leer. Sie wartete eine Weile, dann räumte sie das Geschirr auf das Tablett und brachte es weg. Was hatte das zu bedeuten?, fragte sie sich. Wenn Dieter zur Diebesbande gehörte, war der andere vielleicht ein Kumpel von ihm, der das Gelände beobachten oder auskundschaften sollte. Vielleicht ärgerte sich Dieter, dass der sich so ungeschickt anstellte.
Unentschlossen ging sie langsam über den Rasen. Das war schließlich öffentliches Gelände. Sie konnte sich den Wagen ansehen wollen. Außerdem musste sie sich noch für die Einladung bedanken, fiel ihr ein. Je näher sie den beiden Männern kam, desto mehr hatte sie den Eindruck, dass sie friedlich miteinander umgingen. Gott sei Dank, eine Schlägerei hätte ihr gerade noch gefehlt.
»Alles in Ordnung?«, rief sie trotzdem schon von weitem.
»Alles bestens«, rief Dieter zurück und lachte. »Entschuldigung, dass ich Sie einfach habe sitzen lassen.« Er stand aufund klopfte sich Halme von der Hose. Der andere wirkte ein wenig blass und verstört. Er hatte eine Kamera mit auffallend großem Objektiv bei sich. »Ein alter Freund«, sagte Dieter und deutete auf den Mann, der große Augen bekam und ihn anstarrte. Etwas stimmte hier nicht. »Ich war nicht sicher, von da hinten konnte ich ihn nicht gleich erkennen, aber er ist es. Zufälle gibt’s.«
Jasmin war irritiert. »Sie haben von da hinten …?« Sie drehte sich um und blickte zu dem Tisch, an dem sie eben noch gesessen hatten. Unmöglich. Die Entfernung war viel zu groß, obendrein hatte sich der angebliche Freund ständig versteckt.
Der fing ihren Blick auf und stotterte: »Det is een S-Bahnwagen der ehemaligen Werkbahn, een Viertelzuch.«
»Ein was?«
»Viertelzug«, wiederholte er. »Trieb- und Steuerwagen. Kommt aus Berlin, dat Ding. Ick wollte een Foto machen, wa? Aba ohne Menschen drauf und ohne Jebäude und die Rakete im Hinterjrund. Det is nich eenfach, dette können Se ma globen. Dafür müssen Se den optimalen Standort finden.«
»Aber Sie stehen nicht«, stellte Jasmin fest.
»Nee, stimmt.« Er lachte kurz. »Von unten sieht’s am besten aus. Der richtje Standort, die richtje Perspektive. Denn haste Chancen uff eene Auszeichnung, wa?«
»Was für Sie die Malerei ist, ist für ihn das Fotografieren«, schaltete sich Dieter ein. Der Fotograf hatte ihn offensichtlich völlig vergessen, so sehr war er in seinem Element gewesen. Nun schien er geradezu erschrocken zu sein. »Also, mein Bester«, rief Dieter fröhlich, »dann noch viel Spaß und gutes Gelingen.« Er machte eine Faust und signalisierte ihm damit, dass er ihm den Daumen drückte.
»Ja, danke, mach et jut«, sagte der zögernd.
»Tut mir wirklich leid, jetzt halten Sie mich bestimmt für unhöflich«, begann Dieter zerknirscht, als sie über den Rasen spazierten.
»Nein, nein, schon gut.« Wenn sie nur wüsste, wofür sie ihn halten
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